18.5.1948: Rede an die Deutschen!

80 Jahre nach Kriegsende

Erinnerung an Eugen Kogon 8.5.2025 in Königstein

Neu-Edition der Publikation von 1948 mit Kommentar und Materialien. Buch- und Online-Ausgabe >>Paulskirche 1948

Christoph Schlott und Wolfgang Geiger
im Gespräch mit Beate Kogon
am 8.5.2025 in Königstein

Foto (C) Frauke Heckmann

18. Mai 1948: An die Deutschen!

Fritz von Unruh, Eugen Kogon

und wir heute

von

Wolfgang Geiger

 

Vortrag zur Vorstellung der Neu-Edition der Rede von Fritz von Unruh am 18.5.1948 in der Paulskirche, damals herausgegeben mit einem Geleitwort von Eugen Kogon, auf der Veranstaltung zur Erinnerung an Eugen Kogon unter Anwesenheit seiner Enkelin Beate Kogon am 8. Mai 2025 in Königstein.[1]

>>pdf Unruh-Kogon_8.5.2025

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Fritz von Unruh und Eugen Kogon – zwei Persönlichkeiten, deren Wege sich 1948 kreuzten.

 

Eugen Kogon brauche ich hier nicht mehr vorzustellen, möchte aber noch einiges zu ihm sagen im Zusammenhang mit der Frage: Warum beschäftigen wir uns heute überhaupt noch mit ihm? Oder: wieder?

 

Doch wer war Fritz von Unruh?

 

Nur zuerst einige Highlights mit Bezug zu Frankfurt:

Fritz von Unruh war, nach ersten Anfängen im Kaiserreich, ein in der Weimarer Republik viel gespielter und berühmter Dramatiker. Er schrieb Theaterstücke mit politischer Botschaft und expressionistischem Ausdruck, wo es um Krieg, Militarismus, Macht und Unruhs pazifistische Einstellung ging, die er aus dem Ersten Weltkrieg mit nach Hause brachte.

 

Noch vor Kriegsende, am 16. Juni 1918, wurde seine Anti-Kriegs-Tragödie Ein Geschlecht im Frankfurter Schauspielhaus uraufgeführt und auch sofort danach verboten, doch für Unruhs Ruhm war damit ein erster Meilensein gesetzt – sein letzter wurde es auch in Frankfurt, vierzehn Jahre später, am 8. Mai 1932, durch die Komödie Zéro. „Komödie“ muss man hier wohl ironisch verstehen, oder satirisch.

Bei der entscheidenden Szene kam es offenbar zu einem Tumult im Saal, doch die Berichte weichen deutlich voneinander ab. In der Frankfurter Zeitung wurde nur von einem „lauten Pfeifen“ berichtet.[2] Vielleicht hielt der Theaterkritiker das noch für im üblichen Rahmen. Er kannte aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Folgen, die das haben sollte. Im Frankfurter Personenlexikon und in anderen Rückblicken von heute aus wird mit Bezug auf Quellen, die ich hierfür nicht nachprüfen konnte, das so erzählt:[3]

 

Eine der Personen namens Engel (nomen est omen) sagt:

„Babylon ging unter, Assyrien, Ägypten, natürlich gehen wir auch unter… Auf dem Potsdamer Platz werden Schafe weiden…“ […] „Entweder ein Volk will Raum, oder es will Zeit –“

Ruft die Person namens Angst dazwischen: „Es will Raum…“ /
Und Engel antwortet: „Darum geht es unter… Wie Sparta und Athen…“

An dieser Stelle bricht der Tumult im Saal aus, der Autor selbst, Fritz von Unruh springt mit geballter Faust vor die Bühne und ruft noch einmal in den Saal:
„Auf dem Potsdamer Platz werden Schafe weiden!“

Das war am 8. Mai 1932. Auf den Tag genau 13 Jahre später sollte dies nicht ganz aber sinngemäß so eintreffen.

Tumult im Saal also – Nazis stimmten ihr Kampflied an: „…und morgen die ganze Welt!“

Ob und wie man sie zur Ruhe gebracht hat – kaum vorstellbar – weiß ich nicht, vielleicht waren es nicht viele, aber das Stück wurde weitergespielt und am Ende gab es wohl neben Pfiffen auch Applaus.[4]

 

Trotzdem war es das Ende für Unruh in Frankfurt. Die Stadtverordneten, in einer Mehrheit aus Mitgliedern demokratischer Parteien und noch wenigen Nazis nach der Sitzverteilung von 1928, missbilligten zwei Tage danach die Aufführung des Stücks. Die Frankfurter Zeitung kritisierte die Zensur in scharfen Worten als „Tyrannis der Subalternen“:

„Dieser groteske Vorgang, diese Szene, die sich im Stadtparlament […] abgespielt hat, könnte ohne weiteres als ein Bestandteil dem Stoffe, mit dem der Dichter in ‚Zéro‘ gearbeitet hat, einverleibt werden.“ Es „zeigt sich die Gefahr, von der Deutschland mehr bedroht ist als die Öffentlichkeit es merkt, wie in einem Scheinwerferlicht.“[5]

 

Doch über Unruh war der Stab gebrochen, wenn nicht in Frankfurt, würde er auch sonst nirgendwo gespielt werden. So verließ er noch im selben Jahr Deutschland, noch bevor Hitler an der Macht war.

Aus dem Exil in Amerika kehrte er am 17. Mai 1948 nach Frankfurt zurück, eingeladen von Oberbürgermeister Walter Kolb, um am Tag darauf in der pompösen Feierwoche zum Hundertjährigen Jubiläum der Nationalversammlung 1848 in der Paulskirche die Festrede zu halten. Ein paar Monate später bekam er auch den Goethepreises verliehen.

 

 „Wenn mein Hiersein auch nur den allergeringsten Sinn haben soll“, sprach von Unruh ist dieser Rede an die Deutschen und an die über tausend Gäste im Saal, „so kann es doch nur der sein, daß meine Lippen es aussprechen, was sich viele selbst in der stillsten Zelle ihrer Selbsterkenntnis noch immer scheuen einzugestehen: Nämlich: ‚Wie schlecht wir es machten, als wir noch handeln konnten…‘ Es sei denn, wir erkennen selbst im Ruinenstaub der ‚Braunen Häuser‘ noch immer nicht die Tatsache an, daß jeder Einzelne von uns ja in seinem Innersten frei gewesen war, sich zu entscheiden für ‚Gut‘ oder ‚Böse‘. Für ‚Recht‘ oder ‚Chaos‘.“ (S. 42) [6]

 

Mit „Chaos“ ist gemeint: Rechtlosigkeit, Willkür, Unrecht. Dieses so verstandene Chaos war die Ordnung, wie sie die Nazis verstanden, und was sie hinterließen, war Chaos im ursprünglichen Wortsinne: Tod und Zerstörung, Ruinen im Materiellen und im Geistigen.

 

Am 18. Mai 1948 hatte Fritz von Unruh Gelegenheit auf seine und Deutschlands Geschichte in der Paulskirche zurückzublicken, zur Besinnung aufzurufen, die Lehren aus der Geschichte zu ziehen, was Kogon und andere Zeitgenossen seit Kriegsende umtrieb – wahrlich nicht alle, eher wenige, Kogon aber wohl nachhaltiger als die meisten anderen Intellektuellen jener Jahre, für die das Thema zu diesem Zeítpunkt im Mai 1948 schon stark an Konjunktur eingebüßt hatte. Die Gründung des Weststaates lag schon in der Luft, die Vergangenheit konnte dann zugeklappt werden – aber nicht für jemanden wie Kogon. Überhaupt nicht.

Auch Unruh trug seine Lehren aus der Geschichte noch einmal wortgewaltig vor, bevor sie im Gründungsprozess der Bundesrepublik verhallten; mit keinen schönen Worten in der Paulskirche zum 100jährigen einer am Anfang und am Ende missglückten Demokratie, die dazwischen ja nur kurze Zeit währte.

 

Zuvor hatte Kogon im Januar ‘47 in den Frankfurter Heften mit humoristischem Anklang geschrieben:

„Die Welt erscheint in einer anderen Sicht, wenn man liegt, — in der Niederlage. Der Zustand hat seine Vorteile und birgt Gefahren. Die Tagesgedanken werden flüchtiger, Vordergründiges tritt zurück, die Masse des Aufdringlichen; das Wesentliche weckt die Besinnung. […] Aber dort, im Kern unseres Selbst, gleitet das Denken auch leicht in das Unwirkliche hinüber, in das Täuschende, in Traum und Illusion.“[7]

 

Das Wirkliche im Hier und Jetzt beschwor Unruh in seiner Rede, wenn man sie hört, ergreifend in der Ausdrucksstärke des expressionistischen Dramatikers und in einer Verve gegen die Opportunisten von gestern, heute und morgen, die ihren Opportunismus stets über alle Zeitenwenden hinwegretten:

„Hinweg mit jenen“, schrie er ins Publikum, ich kürze das hier ab [8] -– „Hinweg mit jenen, die sich gestern dieser – und heute wieder jener Rolle anpassen, chamäleongleich. […] Das ganze Rudel der Mitläufer, Beamten, Professoren und Generale, die gestern pro Hitler und vorgestern pro Weimar und vorvorgestern pro Kaiser waren – und heute schon wieder mit den Zonenbefehlshabern liebäugeln, hinweg mit ihnen!“ (S. 44).

 

Wie mochten die Anwesenden dies innerlich aufgenommen haben? Die Ministerpräsidenten und anderen Würdenträger und Politiker, die anwesenden „Zonenbefehlshaber“ und die anderen tausend Anwesenden? Das hatte Oberbürgermeister Walter Kolb vermutlich nicht so erwartet, als er Unruh einlud und der ihm in seinem Brief aus New York dafür dankte und erklärte, seine Rede zu halten „in jenem Ernst und in jener Verantwortung, das diesem feierlichen Datum entspricht“, „dann wollen wir in Demut, als im Willen zur Wahrheit und einem neuen Weg für Deutschland die Seele unseres Volkes beschwören.“[9]

Wille zur Wahrheit, Demut, Volksseele? War dies alles versammelt im Auditorium? War es dafür empfänglich? Wie die Teilnehmer diese Art Publikumsbeschimpfung innerlich aufgenommen haben, wissen wir nicht, äußerlich schon: durch großen Applaus. Vielleicht ein Beleg für jenen Opportunismus, den Unruh darin ansprach. Leider gibt es keine Filmaufzeichnung vom Publikum dabei. Wie schrieb doch Der Spiegel sehr süffisant darüber: „[Unruhs} Erkenntnisse waren längst ihre Erkenntnisse geworden, soweit sie überhaupt bereit waren zu erkennen.“[10] Eben!

 

Eugen Kogon hat, so lese ich das heraus, auch an der Ehrlichkeit dieses Applauses gezweifelt, so setzte er in seinem Geleitwort zu Unruhs Rede, die er kurze Zeit später im Verlag der Frankfurter Hefte herausgab, gleich zu Beginn noch eins drauf, indem er fragte, wer denn sonst als Unruh für diese Festrede, in Wirklichkeit ein Anklage-Plädoyer, in Frage gekommen wäre:

„Wer, in diesem Deutschland, hat heute die Größe, das Ansehen und das moralische Recht, eine ‚Rede an die Deutschen‘ zu halten? Nicht ein einziger Politiker, solange sie sind, was sie sind und wie sie sind, ein Wirtschafter überhaupt nicht, auch kein Professor, obgleich der Titel Bekenntnis verlangt, und nicht einmal einer jener Priester, denen das Prophetenamt anvertraut wäre.“ (S. 7).

Das war starker Tobak und gewiss auch etwas übertrieben. Einen Walter Kolb konnte es nicht treffen, er war in der NS-Zeit mehrfach inhaftiert gewesen, dann (zu Unrecht) mit dem Stauffenberg-Attentat in Verbindung gebracht worden und konnte sich der erneuten Inhaftierung gerade noch durch Flucht entziehen.

Für manch anderen unter den Anwesenden mag Ähnliches zutreffen. Aber für wie viele nicht? Wie viele „gingen mit der neuen Zeit“ so wie mit neuen Zeiten zuvor auch schon? Wie viele waren unter ihnen, die, wie Unruh sagte, vorhin zitiert, „sich selbst in der stillsten Zelle ihrer Selbsterkenntnis noch immer scheuen einzugestehen: ‚Wie schlecht wir es machten, als wir noch handeln konnten…‘“?

Und wie viele waren unter ihnen, die, wie Kogon in seinem Buch Der SS-Staat und in den Frankfurter Heften detailliert ausführte, wussten, dass es KZs gab und wissen konnten, im Großen und Ganzen jedenfalls, was darin vor sich ging, namentlich die Weimarer, wie es der Buchenwald-Häftling selbst erlebte; und wie viele verdrängten dies nach 1945 – und sogar, wie viele gab es, die es vorher nicht wussten, aber jetzt, und die Wahrheit darüber trotzdem ablehnten?

„Nur weil sie fürchten“, erklärte sich Kogon dies, „ihr früheres Nichtwissen könnte durch diese Aufklärung schuldhaft gemacht werden.“[11]

 

Solche Analysen – hier nur kurz angerissen – zeigen eine Vielschichtigkeit des Problems Schuld und Verdrängung auf, die so manche pauschale Aussage Jahrzehnte später von der kollektiven Verdrängung nicht ansatzweise erfasste, und vielleicht auch gar nicht wollte…

Weil sie die Verdrängung als Schuldeingeständnis quasi eines jeden interpretiert und damit eigentlich die Kollektivschuldanklage wiederholt hat, die nach dem Krieg von Seiten der Amerikaner gerade dazu beigetragen hat, eine aufrichtige Selbstprüfung jedes Einzelnen und des Kollektivs deutsches Volk zu behindern, wie Kogon nicht müde wurde zu kritisieren.

Natürlich gab es Verdrängung aus Schuld, auch indirekter Schuld – „Wie schlecht wir es machten, als wir noch handeln konnten…“ –, aber es gab auch Verdrängung aus Scham ohne Schuld, das ist nicht dasselbe.

 

Unsere quasi offizielle Lehre aus der Geschichte heute ist jedoch, seien wir ehrlich, nicht viel mehr als das „Nie wieder!“. Anders als damals, nach ‘45, führen wir uns heute unablässig die Gräuel von damals, vor ‘45, vor Augen, es sind die Folgen der NS-Herrschaft, nicht deren Ursachen, um die es eigentlich gehen sollte, wenn man das Nie wieder ernst nimmt, nämlich durch das ebenso rituell abgegriffene „Wehret den Anfängen!“

„Nie wieder ist jetzt“, der Spruch der Demonstrationen Anfang 2024, war ein richtiges Signal in diese Richtung. Hat es Folgen?

Nun hört man seit einiger Zeit fast ohne Unterlass, die Demokratieerziehung soll gestärkt werden, aber wir haben noch nicht einmal einen Demokratietag mit einem ihm gebührenden Stellenwert dafür.

Unter den 10 offiziellen Gedenktagen des Bundesinnenministeriums ist nur ein positiver, der 3. Oktober, Tag der Wiedervereinigung, alle anderen gedenken den Opfern verübter Verbrechen oder gescheiterten Widerständen gegen das Unrecht. Letztes Jahr ist noch einer dazugekommen: der Tag des Veteranen der Bundeswehr am 15. Juni – kenne ich auch erst jetzt. Wenn man an den Afghanistan-Einsatz denkt, der wohl Anlass dafür war, dann ist das aber auch keine Erinnerung an etwas Erfolgreiches.[12]

 

Man muss nicht Höcke heißen und das Geschichtsbild der AfD teilen, um diese negative Erinnerungskultur zu kritisieren; anders als die Genannten will ich sie aber nicht weghaben, keine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ im Sinne von Höcke und Gauland. Doch die bestehende Erinnerungspolitik, wenn man sie denn so nennen will, garantiert keineswegs, was das Bundesinnenministerium selbst dazu auf seiner Webseite sagt: „Damit tragen Gedenk- und Feiertage auch zur Konsensbildung und Identifikation mit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung bei.“

Ja, wie denn? Das Nie wieder von Auschwitz erfordert noch kein Bekenntnis zu unserer Verfassung, mit allem, was dazugehört.

 

1948 schrieb Hannah Arendt in der Zeitschrift Die Wandlung Überlegungen ausgehend von ihrer Lektüre der beiden Bücher von Eugen Kogon und dem Franzosen David Rousset, letzterer ebenfalls Buchenwald-Häftling, danach aber auch Auschwitz-Überlebender. Sie drückte darin ihre Hoffnung aus, dass die Konfrontation mit dieser Realität den „Aberglauben“, wie sie sagt, der klassischen Politik mit ihren „sophistisch-dialektischen Interpretationen“ zerstören möge, „daß aus dem Bösen etwas Gutes entstehen könne.“[13] Quasi ein „Aberglaube“, frei nach Goethe, an jene Kraft, die erst das Böse tat und damit das Gute schafft. So ähnlich kommt mir aber etwas modifizierter der Glaube auf besagter Webseite des Innenministeriums vor, dass die Konfrontation mit dem Absolut Bösen davon grundlegend heilen möge.

 

Damit aus dem Bösen etwas Gutes entstehen kann, bedarf es viel mehr. Ich kenne niemanden, der sich selbst, und zwar in seinem Inneren, mehr Gedanken darüber gemacht hat als Eugen Kogon. Nicht „mehr“ im quantitativen Sinne, sondern im qualitativen. Im Quantitativen gibt es heute eine Flut von Publikationen über die bewältigte oder nicht bewältigte Vergangenheit, wie man sie bewältigen müsse oder dass „Bewältigung“ überhaupt das falsche Wort sei, und dergleichen mehr.

Viele von den Publikationen, die ich kenne, vermitteln mir aber eher den Eindruck dessen, was der Philosoph Wolfgang Fritz Haug schon 1967 den „hilflosen Antifaschismus“[14] genannt hat in seiner Analyse der ersten Vorlesungsreihen damals an Universitäten über den Nationalsozialismus; heute wäre das noch auf einer weit höheren Ebene vor höheren Ansprüchen daran festzustellen: Ein Antifaschismus, der an die Macht der Belehrung glaubt.

Damit mache ich mir in der Gelehrtenwelt nicht unbedingt Freunde, will es aber auch gar nicht, denn darum geht es nicht.

Diese „Identifikation mit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung“, die sich das Innenministerium mit seinen Gedenktagen erhofft, kennt also gar keinen Erinnerungstag der Demokratie – der Wiedervereinigungstag ist ja keiner in diesem Sinne – und feiert somit nicht einmal gebührend den Geburtstag unserer Demokratie, in und von der wir heute leben, also die Verkündung des Grundgesetzes.

 

Drei Jahrzehnte nach dieser Geburt unserer Demokratie, aber fast fünf Jahrzehnte vor heute, schrieb Eugen Kogon:

„Die Vergangenheit ist in der Bundesrepublik nicht moralisch, sondern politisch bewältigt worden – in einer internationalen Konstellation der Interessen und Kräfte, die dem auf das nachhaltigste zuträglich war.“ Das war 1977 in einem neuen Vorwort zum SS-Staat.[15]

Diese „internationale Konstellation der Interessen und Kräfte“ war natürlich der Kalte Krieg, der die jüngste Vergangenheit in Deutschland ad acta legte. Als Kogon dies schrieb, begann sich das Schweigen aber schon aufzulösen und heute sind wir definitiv darüber hinaus, aber auch über das Danach hinaus, in einer neuen Phase der Zeitumkehrung, die die Dämonen der Vergangenheit wiederbringt, auch wenn sie heute anders aussehen.

 

Die zweite Hälfte der 80 Jahre, die seit Kriegsende zum heutigen Tag vergangen sind, waren und sind noch geprägt von der Umkehr um 180 Grad gegenüber der ersten Hälfte, weg von der Verdrängung, hin zum Gegenteil.

Mit welchem Erfolg? Dass sich das Gute von Heute weiterhin durch die Präsentation des Bösen von Gestern bewährt, dass die Mahnung vor den Folgen des NS-Regimes eine wie auch immer geartete Wiederholung seiner Entstehung verhindert? Schon die Verengung des Blicks auf die Folgen des Bösen damals, nicht auf dessen Ursprünge, wie es also dazu kam, behindert die Wahrnehmung heute, wie es auch auf andere Weise wieder geschehen könnte.

 

Hier, wo der Geist zu schwach ist, greift tatsächlich die Institution:

Die direkte Folge der Entscheidung des Verfassungsschutzes zur AfD als „rechtsextremer Bestrebung“ dürfte sein, dass niemand mehr auf den Gedanken kommt, sie als „normale Partei“ zu betrachten. Was nicht einfach ist und was das Problem nicht löst, dass 10 Millionen Wähler bis zur letzten Bundestagswahl so dachten und vermutlich auch weiterhin denken. Und wenn die Beweggründe für diese Entscheidung nicht bald öffentlich gemacht werden, könnte dies sogar eine Solidaritätswelle für die AfD auslösen.

 

Das grelle Licht auf die NS-Verbrechen lässt im Schatten, dass der Faschismus im allgemeinen, strukturellen Sinne auch ohne Massenmorde ein Unrechtsregime war und dieses erst die Voraussetzung für die daraus hervorgegangenen Verbrechen. Das erste Unrecht war die Außerkraftsetzung der Grundrechte noch in der bestehenden Weimarer Republik, die Unterdrückung politischer Opposition und dann ihre Verfolgung. Wie viele Millionen haben damals gedacht, dass das so „in Ordnung“ war?

 

Wie sehr habe ich mich in der Schule bemüht zu vermitteln, dass schon das Ermächtigungsgesetz Unrecht war, von gewählten Demokraten ermöglicht.

Wie oft habe ich bei unseren jährlichen Exkursionen nach Buchenwald hören und spüren können, dass die Schülerinnen und Schüler offenbar verwundert waren[16], dass es dort „nur“ 57.000 Tote gab. Bis man dort, was noch vorhanden ist und einem den Tod näher bringt, auch näher besichtigt hat. Und dass die ersten Opfer des NS-Regimes politische Oppositionelle waren, nicht „nur“ Kommunisten, auch viele Demokraten.

 

Der Soziologe Adorno erklärte in den 60er Jahren desöfteren wörtlich oder sinngemäß, dass nur die „Erziehung zur Mündigkeit“ die Voraussetzung dafür schaffen könne, dass „Auschwitz nicht noch einmal sei“. Es ging darum, dass das, was die Frankfurter Schule den sozial geprägten „autoritären Charakter“ des Individuums als Voraussetzung für ein autoritäres Regime erkannte, überwunden werden müsse.

Leider eine richtige, aber keine hinreichende Forderung, wie wir heute sehen. Die Schule erzieht seit Jahrzehnten zur Mündigkeit, d.h. sie hat autoritäre Erziehungsmuster schon lange überwunden, Selbstständigkeit ist das oberste pädagogische Ziel, der „mündige Bürger“, wie es so schön heißt. Das verhindert trotz­dem nicht, dass immer mehr Menschen und auch Jugendliche auf Distanz zur Demokratie gehen.

 

Dem Philosophen Kant zufolge war Aufklärung – und das hieß Aufklärung durch Bildung – „der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Wir sehen aber, dass weder Aufklärung, noch die weitergehende Erziehung zur Mündigkeit eine Garantie dafür ist. Befreiung von Bevormundung bedingt noch keine Mündigkeit. Die Selbstständigkeit von etwas, zu der wir erziehen, erzeugt noch nicht von selbst eine Selbstständigkeit zu etwas.

 

Mündigkeit und Demokratie sind eng miteinander verbunden. Doch dazu gehört ein entsprechendes Bewusstsein. Demokratie ist aber heute so selbstverständlich geworden, dass sie nicht mehr (von) selbst-verständlich, nicht mehr bewusst ist. So dass wir gar nicht mehr darüber nachdenken, was Demokratie eigentlich ist, nämlich weit mehr als Wahlen und Mehrheitsentscheidungen.

Das Korsett der Demokratie, mit dem zunächst die Westdeutschen nach dem Krieg ausgestattet wurden, hat die Deutschen erst gestützt und dann geformt und vor allem die nachwachsenden Generationen. Dies geschah lange Zeit und selbst in schwierigeren Phasen eher in der Schönwetterperiode der Demokratie als bei Unwetter. Doch gerade in schlechten Zeiten ist die Demokratie noch viel notwendiger als in guten.

 

Heute müssen wir uns fragen, inwiefern die Demokratie voll und ganz auch im Geiste verankert ist. Genau darum ging es Eugen Kogon von Anfang an. Noch einmal zurück zu 1948:

Nie ist Demokratie ein Zustand, immer eine Forderung“, sagte er wiederholt, „kein System der Freiheit kann […] bestehen ohne einen entwickelten, immer wachen Freiheitswillen seiner Bürger. […] Denn niemals sind es die Institutionen allein, die uns zu schützen vermögen, immer ist es in besonderen Gefahrenlagen der Geist, der darüber entscheidet, wie von ihnen Gebrauch gemacht wird.“[17]

 

 

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[1] Zur Veranstaltung cf. Die Präsenz Eugen Kogons, Königsteiner Woche 22 / Taunus-Nachrichten, 28.5.2025, S. 11, https://www.taunus-nachrichten.de/koenigstein/e-paper/koenigsteiner-woche-kw-22-2025.html; zum Buch: Fritz von Unruh: Rede an die Deutschen (Paulskirche 18.5.1948). Mit einem Geleitwort von Eugen Kogon. Originalausgabe: Frankfurt/M. (Verlag der Frankfurter Hefte) 1948. Kommentierte Neuauflage mit Materialien, herausgegeben von Wolfgang Geiger / Eugen-Kogon-Gesellschaft. Limburg (Chronicon-Verlag) 2025. Online-Ausgabe: Textband und Materialien in drei Teilen https://www.eugen-kogon-gesellschaft.de/1948-paulskirche/

[2] Frankfurter Zeitung, 10.5.1932, Morgenausgabe, S. 1-2, https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/periodika/periodical/pagetext/13488921

[3] Reinhard Frost: Unruh, Fritz von, in: Frankfurter Biographie 2, 1996, übernommen in: Frankfurter Personenlexikon 2014, https://frankfurter-personenlexikon.de/node/1529

[4] Schauspielhaus Journal 1/2021, S. 11, https://cdn.website-start.de/proxy/apps/y2gpz4/uploads/gleichzwei/instances/EA12571C-C71B-4A96-A61C-19357E6634CF/wcinstances/epaper/9eb7cee6-7f08-49f5-8b8b-a4a8a1be0b90/pdf/Kontrollansicht_Schauspielhaus-Journal_01-04-21.pdf

[5] Bemerkungen – Tyrannis der Subalternen, Frankfurter Zeitung, Morgenblatt, 12.5.1932, S. 3.

[6] Rede an die Deutschen, S. 42/. (Originalseitenzählung)

[7] Eugen Kogon: Über die Situation, in: FH, 2. Jg., H. 1, Jan. 1947, S. 17.

[8] Audio ganz von -8:58 „Widerstehen wir, wenn uns die ewigen Kompromissler…“ bis -7:17 (Applaus), Materialien 2 (online siehe Anm. 1).

[9 Zit. nach Waltraud Wende-Hohenberger: Ein neuer Anfang? Schriftsteller-Reden zwischen 1945 und 1949. Stuttgart (Metzler) 1990, S. 190. Aus den Kulturamtsakten im Stadtarchiv Frankfurt, Sign. 451.

[10] Blau und Dur. Wie der Prospekt es befahl, Der Spiegel Nr. 21, 22.5.1948, vgl. Materialiensammlung Teil 3, S. 246.

[11] Eugen Kogon: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager. Frankfurt/M. (Verlag der Frankfurter Hefte) 1946, S. 331; vgl. auch Eugen Kogon: Gericht und Gewissen, in: Frankfurter Hefte, 1. Jg., H. 1, S. 31.

[12] https://www.protokoll-inland.de/Webs/PI/DE/themen/nationale-gedenk-feiertage/nationale-gedenk-und-feiertage-node.html

[13] Hannah Arendt: Konzentrationslager, in: Die Wandlung, 3. Jg., 1948, H. 4, S. 313.

[14] Wolfgang Fritz Haug: Der hilflose Antifaschismus. Zur Kritik der Vorlesungsreihen über Wissenschaft und NS an deutschen Universitäten. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1967.

[15] Vorwort von 1977 zu Eugen Kogon: Der SS-Staat. München (Heyne) 1977, S, 9.

[16] Erkennbar an ihrer Mimik. Damit sind jedoch nicht alle gemeint.

[17] Eugen Kogon: Der Terror als Herrschaftssystem, Referat auf dem 9. Deutschen Soziologentag 1948, zuerst in Frankfurter Hefte, 3. Jg., H. 11, November 1948, S. 1001, und in den Neuauflagen vom SS-Staat ab 1948 als neues erstes Kapitel eingefügt.