
1946 Verfassung des Landes Hessen
Hessen vorn!
Zum Stellenwert der Hessischen Verfassung in der demokratischen Erneuerung nach 1945 und in unserem Geschichtsbewusstsein heute
Onlinefassung 2025. Orig. in: Verfassung des Landes Hessen. Begleitband zu den Faksimiles 2022, herausgegeben von Christoph Schlott. Limburg (Chronicon) 2022, S. 104-118, mit Bilddokumenten. – Hier auch als pdf erhältlich: Hessen vorn
Wolfgang Geiger[1]
Der Platz der Hessischen Verfassung in unserem kollektiven Geschichtsbewusstsein ist, überspitzen wir es mal, eine Leerstelle. Die Abschaffung des Artikels zur Todesstrafe, ohnehin durch Bundesrecht wirkungslos, hat sie durch die Volksabstimmung vor einigen Jahren kurzzeitig ins Bewusstsein gerufen. Ansonsten kennen wir das Funktionieren der demokratischen Institutionen, wie es in der Verfassung festgelegt ist, und ab und zu in Krisenfällen wie bei fehlenden Mehrheiten und geschäftsführend amtierenden Regierungen schauen Politiker und Journalisten schon mal genauer hinein.
Zu bestimmten Jubiläen wird die Verfassung offiziell gewürdigt, doch ihr erinnerungskultureller Stellenwert beschränkt sich auf diese Jubeljahre und hat daher etwas Pflichtgemäßes. Es ist keine allgemein gelebte Erinnerungskultur, denn es fehlt dazu die bewusste und präsente Erinnerung. „Ich glaube“, sagte die Rechtwissenschaftlerin Ute Sacksofsky anlässlich eines dieser Jubiläen, „dass die meisten Hessinnen und Hessen ganz zufrieden mit ihrer Verfassung sind – einmal abgesehen davon, dass sie sie überwiegend nicht kennen.“[2] Und das war, glaube ich, gar nicht mal satirisch gemeint.
1946 wurde eine Verfassung für Hessen geschaffen, als wäre es die für ein neues Deutschland. Sie ist damit ein lebendiges Zeugnis des Entstehungsprozesses der neuen Demokratie. Und mehr noch: In manchem war sie ihrer Zeit weit voraus. Darum geht es und darum sollten wir das stärker im Bewusstsein haben.
- Die frühe Demokratisierung in der US-Zone
Nach zwölf Jahren Diktatur und von da aus Krieg, Terror und Verbrechen über ganz Europa, begann die Wiedererrichtung einer Demokratie in Deutschland eigentlich schon am Tag der Befreiung durch die bedingungslose Kapitulation und mit der vollständigen Besetzung Deutschlands. „Zum zweiten Mal ist den Deutschen eine Revolution geschenkt worden“, schrieb Walter Dirks in der ersten Ausgabe der Frankfurter Hefte im April 1946. „Der Sieger hat die vormals herrschende Macht zerschlagen, nicht wir.“[3] Und ergänzte, dass es diesmal besser gelingen müsse als 1918/19.
Die Alliierten hatten aus der Vergangenheit gelernt, die Deutschen mussten es noch tun. Lernen nicht nur aus den letzten zwölf Jahren, sondern auch daraus, was sie ermöglicht hatte: strukturelle Fehler der Weimarer Verfassung, mangelndes Vertrauen der Demokraten in die Demokratie in Zeiten der Krise, Autoritätshörigkeit vor Selbstvertrauen. Das hatte die Weimarer Republik gewiss nicht „von Anfang an zum Scheitern verurteilt“[4], wie oft gesagt wurde, aber in ihrer Endphase schon. Die äußere Krise wurde zur inneren Krise: Ohne die Weltwirtschaftskrise wäre die NSDAP nicht an die Macht gekommen, doch gerade in der Krise liegt die Bewährungsprobe der Demokratie, nicht in ihren Schönwetterperioden.
Alle Alliierten waren davon überzeugt, dass die Deutschen einer „Umerziehung“ bedurften, die drei Westalliierten und die Sowjetunion vollzogen dies jeweils auf ihre Weise. Die Entnazifizierung war dabei nur ein Teil des Problems, das andere und tiefgreifendere in den westlichen Besatzungszonen war der Aufbau eines demokratischen Bewusstseins nicht nur nach außen hin, im Sinne einer neuen Autoritätshörigkeit gegenüber den Alliierten, sondern auch innerlich. Ludwig Bergsträsser, der dem Widerstandskreis um Wilhelm Leuschner angehörte und 1945 von den Amerikanern als Chef einer provisorischen Regierung in Darmstadt eingesetzt wurde, schrieb schon 1942 über eine zukünftige Demokratie nach den Nazis: „Das parlamentarisches System wird in Deutschland nur dann bestehen können“, wenn „der Staatsbürger […] hierzu erzogen“ werde.[5] Menschen, wie sie der amerikanische Offizier Daniel Lerner zu sehen bekam, der noch vor dem 8. Mai 1945 im amerikanisch besetzten Gebiet Deutsche verhörte: „Der jetzt in Mode gekommene Ausdruck ‚belogen und betrogen‘ ist nur eine fromme Lüge, durch die der Deutsche, der ihn gebraucht, unbedacht zugibt, das er irgendwann einmal an die Nazis geglaubt hat und ihnen gefolgt ist. Sonst konnte er jetzt nicht behaupten, ‚belogen und betrogen‘ worden zu sein.“[6] Die über die vier Jahre Besatzungszeit durchgeführten Umfragen der amerikanischen Besatzungsbehörde (OMGUS) zeigten, wie stark die Überzeugung verbreitet war (um die 50% in den Umfragen konstant bis 1949), dass der Nationalsozialismus im Prinzip eine „gute Idee“ gewesen, aber nur „schlecht ausgeführt“ worden sei. Dies wurde auch durch Umfragen der Franzosen in etwa bestätigt.[7] Diese Zahl mag erschrecken; wie bei der Frage nach der halb vollen oder halb leeren Flasche heißt das aber auch hier, dass 50% nicht dieser Meinung waren.
Unter der Aufsicht der Alliierten wurden demokratische Zeitungen und Parteien bereits 1945 zugelassen. Nach der administrativen Bildung von Groß-Hessen im Oktober/November 1945 wurde der politische Demokratisierungsprozess eingeleitet, zunächst auf kommunaler Ebene, wo auf Betreiben von General Lucius D. Clay, damals noch stellvertretender Militärgouverneur, und durchaus gegen die Kritik von Seiten der Parteien, die mit ihrem Aufbau kaum nachkamen, die ersten Wahlen stattfanden: in Hessen am 20. und 27.1.1946, parallel zu denen in den anderen Landesteilen der US-Zone, aber Monate vor denen in den anderen Besatzungszonen. Die Kompetenzen der kommunalen Institutionen waren jedoch beschränkt, die Schaffung einer Landesverfassung und die Wahl eines Landtages hatten eine ganz andere Bedeutung. Vom Erfolg der Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen und dem Abschneiden der Parteien der Mitte bestärkt (v.a. mit Blick auf die KPD, ca. 10%), entschied sich Clay bereits im Februar, das Experiment einer neuen Demokratie in Deutschland auf staatlicher Ebene in den drei Ländern der US-Zone zu starten.
Mit der am 15.7.1946 ersten landesweit gewählten Verfassungsberatenden Landesversammlung wurden konkrete Schritte zu einer Verfassung für Groß-Hessen unternommen, nachdem der Vorbereitende Verfassungsausschuss schon die Grundlage dafür geliefert hatte, die noch in einzelnen Punkten zu überarbeiten war, z.B. in den noch relativ allgemein formulierten Artikeln gegen den „Mißbrauch einer wirtschaftlichen Machtstellung“ (Art. 30)[8], die später in den Sozialisierungsartikeln verschärft wurden.
Im Wettlauf mit den anderen Landesverfassungen der US-Zone wurde die Hessische Verfassung am 29.10.1946 als erste beschlossen, in Kraft trat sie mit der Volksabstimmung bei der Landtagswahl am 1.12., gleichzeitig mit Bayern, in Württemberg-Baden geschah dies sogar eine Woche früher. Gerade anders herum als im vereinigten Hessen war Württemberg-Baden durch den Zuschnitt der Besatzungszonen jedoch nur ein vom südlichen Teil Badens und Württembergs in der Französischen Zone abgetrenntes Provisorium, dessen Ende vorprogrammiert war.
Der Entwicklung im Westen stand die im Osten gegenüber. Am 21. April 1946 wurde in der Sowjetischen Besatzungszone mit der Gründung der SED der erste Schritt zur Teilung Deutschlands unternommen und die SPD war ihr erstes Opfer. Nach der Zwangsvereinigung wurden oppositionelle Sozialdemokraten verfolgt. Kurt Schumacher, damals designierter Vorsitzender der sich länderübergreifend neu gründenden SPD in den Westzonen, verfolgte daraufhin einen streng antikommunistischen Kurs. Den musste er aber auch und zuvorderst in den eigenen Reihen durchsetzen, denn an der Basis ging man aus der Erfahrung der Vergangenheit und auch unter dem Pathos des Buchenwald-Schwurs, dass die Arbeiterbewegung sich nie wieder spalten lassen dürfe, nicht überall damit einig. So wogen in Hessen am Anfang noch die Gemeinsamkeiten zwischen SPD und KPD bei der sozialen oder sozialistischen Komponente der späteren Verfassung schwerer als die Divergenzen, die sich nach der SED-Gründung unweigerlich vertieften und im Juli 1946 zum Ausschluss des sozialdemokratischen Innenministers Hans Venedey aus der Regierung und dann aus der Partei führen, nachdem er sich für die SED ausgesprochen hatte. Und dennoch: „Die Ablehnung der Einheitspartei bedeutete aber nicht gleichzeitig Ablehnung jeglicher Kooperation mit der KPD.“[9]
- Welche Demokratie?
Man muss auch wissen, dass 1946 in den Westzonen eine diffuse, aber starke sozialistische Stimmung herrschte, wie sie sich noch im Ahlener Programm der CDU in der britischen Zone vom 3.2.1947 niederschlug. Die Stimmung gegen die Großkonzerne warf ihnen die Unterstützung Hitlers und Einbeziehung in das nationalsozialistische System vor, aber darüber hinaus ganz grundsätzlich eine Machtposition, die den Einzelnen entmündigte, weswegen diese Kritik auch weit in katholischen Kreisen verbreitet war. Die Frankfurter Hefte, die von Eugen Kogon (ehem. Buchenwald-Häftling) und Walter Dirks gegründet wurden, gaben dieser linkskatholischen Tendenz eine publizistische Plattform.[10]
Trotz der Notwendigkeit eines breiten Konsenses für die Verfassung standen die Sozialdemokraten zunächst der CDU weiterhin reserviert gegenüber. Noch am 5. August 1946 bekannte sich der sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende in der ersten Lesung der Verfassungsberatenden Landesversammlung, Wilhelm Knothe, zu Marx und Engels und geißelte die „monopolisierte Großwirtschaft“ als „Antipoden der Demokratie“ und, unter Protest der CDU, dass damals „fast durchweg bürgerliche Schichten […] aus materiell-egoistischer Einstellung zum Nazismus stießen“ und „zuhauf die Fahnen der Demokratie verließen und in das Lager der Diktatur drängten“ (Anspielung auf das Ermächtigungsgesetz).[11] Über 40% Republikfeinde auf der Rechten (NSDAP und DNVP) bei den Wahlen seit 1932 lassen sich aber nicht alleine durch den undefinierten Begriff „bürgerliche Schichten“ erklären.
Für die CDU brachte deren Fraktionsvorsitzender Erich Köhler, Hauptgeschäftsführer der IHK Wiesbaden, mit seinen Bedenken gegen eine „formale“ und „totale“ Demokratie, die den „Machtrausch einer politischen Partei“ ermögliche, eine gegenteilige Sicht zum Ausdruck.[12] Die CDU plädierte daher für eine monatelang diskutierte Zweite Kammer, die aus Vertretern von Arbeitgebern und Arbeitnehmern bestehen, weitreichende Kompetenzen für die Wirtschaftspolitik haben und, erweitert um die Kirchen sowie öffentliche Mandatsträger wie Oberbürgermeister und Landräte, auch ein konstitutionelles Gegengewicht zum Parlament bilden sollte. Was Ludwig Bergsträsser (SPD) als altkonservativ-ständische „Diskreditierung des Verfassungswesens seit 150 Jahren“ verurteilte.[13] In der Tat musste das im „Königsteiner Entwurf“ der CDU vom Juli 1946 formulierte Konzept der „konstitutionellen Demokratie“ anmuten wie ein Pendant zur konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts: Sollte dort die Macht des Monarchen durch eine Verfassung begrenzt werden, so hier nun die „formale“ Demokratie?[14] Im Konzept der paritätischen Beteiligung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern kann man aber vielleicht schon den ersten Gedanken des später so genannten „rheinischen Kapitalismus“ erkennen, der durch sein Mitbestimmungsmodell den Klassenkampf aufheben wollte.
Der Grundgedanke war hier wohl, dass Demokratie per se keine antidemokratischen Mehrheiten ausschließt.[15] Sie garantiert auch nicht per se eine konstruktive Mehrheitsbildung. Die Weimarer Republik stellte am Ende leider beides unter Beweis. Es handelte sich bei solchen Überlegungen auch um keine strikt nach Parteizugehörigkeit verteilte Kontroverse, schon im Vorbereitenden Verfassungsausschuss erinnerte der Sozialdemokrat Fritz Hoch am 21. März im Hinblick auf das zukünftige Wahlrecht an die damalige Parteienzersplitterung: „[Es war ein] Nachteil des früheren Systems, daß jeder Minderheit Rechnung getragen wurde. Am Parlamentarismus sind wir zugrunde gegangen.“[16] Ein fataler Satz, wenn man ihn isoliert stehen lässt. Man einigte sich dann auf eine 5%-Hürde für das darüber hinaus sehr komplizierte Wahlverfahren zur Verfassungsberatenden Landesversammlung.[17] Die Sperrklausel wurde noch nicht einmal für die erste Bundestagswahl übernommen, sondern galt nur für jedes Land dabei einzeln.[18]
Dies soll hier nur zu einigen wichtigen Stichpunkten zeigen, wie grundlegend die Verfassungsdebatte in Hessen war. Als die Zweite Kammer mit linker Mehrheit verworfen wurde, wandte sich die SPD der CDU zu, um die Gefahr des Scheiterns eines gemeinsamen Verfassungsentwurfs zu verhindern.[19] Der Kompromiss vom 30. September zwischen den beiden Parteien beinhaltete, dass die CDU letztlich auch den Sozialisierungsartikel 41 (1) der hessischen Verfassung akzeptierte, aber nur reduziert auf die Verstaatlichung („Überführung in Gemeineigentum“) in den Bereichen Bergbau, Eisen und Stahl, Energie und Verkehr, die chemische Industrie – auf die es in Hessen gerade angekommen wäre – hatte sie herausverhandelt.[20] Abschnitt (2) sieht ferner die „Beaufsichtigung“ und „Verwaltung“ von Großbanken und Versicherungsunternehmen vor.
Auf Druck der Amerikaner wurde Art. 41 dennoch mit der Verfassung den Wählern bei der Landtagswahl am 1.12.1946 zu einer gesonderten Volksabstimmung vorgelegt, wo er 72% Zustimmung fand. Dass die Besatzungsbehörde dann im Oktober 1948 die Umsetzung von Art. 41 gezielt verhinderte, wie man immer wieder lesen kann, trifft die Sachlage nur unvollständig. Einerseits hatte die Landesregierung 1947/48 selbst alle Mühe, dies gesetzlich zu konkretisieren, andererseits hatten die britisch-amerikanische Besatzungsbehörden der Bizone seit 1947 sowie auch der Kontrollrat als Ganzes andere Ziele, nämlich die Deconcentration oder Entflechtung, allem voran die Auflösung des IG-Farben-Konzerns in Einzelunternehmen, sowie die alliierte Kontrolle über das ganze Ruhrgebiet.[21] Mit anderen Worten: Die Konzentration wirtschaftlicher Macht mit ihrem potenziellen Machtmissbrauch wollten auch die Alliierten verhindern, aber nicht durch die Verstaatlichung.
- Ihrer Zeit voraus
Die hessische Verfassung ist die umfänglichste aller Landesverfassungen. Erstmals musste der ganze Grundrechtekatalog neu aufgestellt werden, in Hessen fiel dieser aber mit 63 Artikeln ausführlicher aus als in Württemberg-Baden und in Bayern. Denn darin geht es nicht nur um individuelle, sondern auch um soziale Grundrechte, die den Grundrechtebegriff erheblich ausdehnen. So wird darin das Recht auf Arbeit festgeschrieben (Art. 28, 2) und die schon in Art. 1 proklamierte Gleichberechtigung von Mann und Frau wurde in Art. 33 präzisiert im Hinblick auf „gleichen Lohn“ „für gleiche Tätigkeit und gleiche Leistung“. Darüber wurde lange debattiert und die Kasseler SPD-Abgeordnete Elisabeth Selbert hat maßgeblich dazu beigetragen[22], wie später auch in heftigerer Auseinandersetzung im Parlamentarischen Rat für das Grundgesetz allein um die Formel „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ (Art. 3). Die hessische Verfassung war hier ihrer Zeit weit voraus.
Einzigartig auch die Artikel zum Thema wirtschaftliche Macht, im Art. 39 (1) heißt es: „Jeder Mißbrauch der wirtschaftlichen Freiheit – insbesondere zu monopolistischer Machtzusammenballung und zu politischer Macht – ist untersagt.“ Weiteres wurde in Art. 39 (2) bis 42 ausgeführt. Wie es mit der Umsetzung von Art. 41 stand, wurde schon erwähnt. Die anderen sind zu allgemein um konkrete Wirkung zu entfalten. Was heute an „monopolistischer Machtzusammenballung“ international entsteht, hätten die Autoren der Verfassung damals aber noch nicht einmal im Alptraum erahnt.
Auch der Bildungs- und Erziehungsauftrag wurde sehr ernst genommen, Art. 56 (5) legt fest: „Der Geschichtsunterricht muß auf getreue, unverfälschte Darstellung der Vergangenheit gerichtet sein. Dabei sind in den Vordergrund zu stellen die großen Wohltäter der Menschheit, die Entwicklung von Staat, Wirtschaft, Zivilisation und Kultur, nicht aber Feldherren, Kriege und Schlachten. Nicht zu dulden sind Auffassungen, welche die Grundlagen des demokratischen Staates gefährden.“ Bereits im ersten Verfassungsentwurf des Vorbereitenden Verfassungsausschusses vom 18.6.1946 war das in Art. 40 angelegt.[23]
Das richtete sich nicht nur gegen das nationalsozialistische Schulwesen, sondern umfassender gegen die Tradition des Militarismus, der von den Alliierten im Potsdamer Abkommen explizit in die vier D’s aufgenommen worden war[24], da die Demilitarisierung dabei nicht nur materiell, sondern auch geistig verstanden wurde – es ging um den preußischen Militarismus. Schon auf der Konferenz von Jalta war beschlossen worden, „alle nazistischen und militärischen Einflüsse aus öffentlichen Ämtern und aus dem kulturellen und wirtschaftlichen Leben des deutschen Volkes zu entfernen.“[25] (Hervorheb. von mir).
Die hessische Verfassung ist daher wie ein Prisma des Prozesses der Redemokratisierung Westdeutschlands in seinen verschiedenen Facetten: als Vorreiterin mit den anderen Landesverfassungen der US-Zone, aber auch als besonders engagierte unter ihnen, in einigen Punkten wie der Gleichberechtigung im Arbeitsleben ihrer Zeit um Jahrzehnte voraus. Sie zeugt aber auch von den im damaligen politischen Kontext gesetzten Grenzen.
- Zum Platz der Hessischen Verfassung in unserer Erinnerungskultur
„Feldherren, Kriege und Schlachten“ standen auch nicht mehr im Mittelpunkt des Geschichtsunterrichts, denn den Militarismus in diesem Sinne – seine Verherrlichung – zu verbannen fiel nicht schwer. Doch die politischen Folgen des Militarismus, seine Verstrickung in den Nationalsozialismus und dessen Verbrechen, wurden damit auch tabuisiert, wie noch die Auseinandersetzung um die Wehrmachtsausstellung 1995ff. zeigte.
Dass die Hessische Verfassung die einzige ist, die dem Unterrichtsfach Geschichte einen Verfassungsauftrag gibt und dabei auch inhaltliche Richtlinien formuliert, ist kaum jemandem bekannt und darunter wohl auch so manchen, die dieses Fach unterrichten. Gewiss behandeln wir im Geschichtsunterricht den Wiederaufbau der Demokratie nach 1945 durch die Bildung der Länder und Wahl der Landtage und gehen vielleicht auch auf einzelne Wahlergebnisse ein – wer hatte die Nase vorn: SPD oder CDU? Wer aber thematisiert besonders die hessische Landesverfassung und in welcher Perspektive? Ist es nur Lokal- oder Regionalpatriotismus – weil wir eben in Hessen leben und dies unsere Verfassung ist – oder werden ihr Stellenwert im Demokratisierungsprozess Westdeutschlands und gar ihre Vorreiterrolle in einzelnen Punkten betont?
Auch ich habe hier dazugelernt und lerne ständig dazu. Dies ist auch eine der vordringlichsten Aufgaben von Geschichtslehrerinnen und -lehrern: Geschichte ist kein starres Gefüge von historischen Fakten, wir wollen und sollen Erklärungen finden und vermitteln für das, was geschah und wie es geschah, und dieser Interpretationsprozess ist ständig im Fluss. Auch weil sich unser Erkenntnisinteresse ständig wandelt und weil dabei eben das Interesse den Erkenntnisprozess prägt – im Guten wie im Schlechten. Mit anderen Worten: Was bedeutet uns die Geschichte als Ganzes und in bestimmten Aspekten? Das seit 2010/11 etablierte Kompetenzmodell für den Geschichtsunterricht nennt hierzu die Orientierungskompetenz: Historische Kenntnis und Erkenntnis hilft uns, unsere heutige Welt zu verstehen und eventuell auch Entwicklungen vorauszusehen, weil wir verstehen lernen, wie das Heutige entstanden ist. Dafür müssen wir im Geschichtsunterricht nicht nur nach der Bedeutung damals, sondern auch nach der für uns heute fragen.
Eine Gefahr für die Demokratie kann auch daraus entstehen, dass sie als selbstverständliche Errungenschaft empfunden wird. Demokratie war zu keiner Zeit selbstverständlich, unumstritten, und ist es auch heute nicht. Nach einer langen Phase der Stabilität wird uns dies langsam bewusst. Findet es auch angemessenen Niederschlag in unserem Unterricht? Dies müssen wir uns ständig fragen. Das Positive in der Geschichte zu vermitteln, wie es der Verfassungsartikel gewiss für uns heute altertümlich wirkend formuliert („die Wohltäter“ etc.), steht im Schatten des Negativen, gerade in der deutschen Geschichte. Vermitteln wir nicht weitaus mehr diese Schattenseiten als die Lichtblicke, die es eben auch gab und von denen der schnelle Weg zurück zur Demokratie 1946 ein Beispiel liefert? Dass die Deutschen 1918/19 die erste deutsche Demokratie nicht wirklich akzeptiert hätten, weil sie noch zu sehr vom Kaiserreich geprägt gewesen seien, und dass die Weimarer Republik deswegen untergegangen sei, ist ein stereotyp verbreitetes Zerrbild, woraus folgt, dass die Deutschen die Demokratie erst wirklich verinnerlichten (in Westdeutschland), nachdem sie ihnen durch die Alliierten quasi eingebläut wurde. Für viele galt das wohl, für viele aber auch nicht. Die Personen, die die Besatzungsbehörde zunächst für diemVorbereitung einer Verfassung für Hessen auswählte, Juristen und ehemalige unbescholtene Politiker aus der Zeit vor 1933 oder sogar danach Verfolgte, mussten nicht umerzogen werden.
Wir erinnern zu Recht, aber zu einseitig an das, was scheiterte in der deutschen Geschichte, und zu wenig daran, was erfolgreich war. Die Hessische Verfassung war das erste Resultat der Demokratisierung, doch sie war, wie auch die anderen Landesverfassungen und später das Grundgesetz, kein Produkt alliierter Autorität und Umerziehung, sondern Resultat einer Selbsterziehung zur Demokratie unter den gegebenen Rahmenbedingungen, die wir in der Tat den Alliierten verdanken. Unter diesen Umständen war sie eine eigenständige Leistung, die äußerst bewusst aus der Vergangenheit lernte. Die Amerikaner griffen in die Hessische Verfassung auch gar nicht ein, außer, dass sie den ungeliebten Art. 41 zur Volksabstimmung stellten und dabei ein anderes als das erhoffte Resultat erzielten. Dass sich der Sozialismus in Hessen aber nicht ausbreitete, dazu trugen sie dann auch bei.
Diesen Doppelcharakter der Hessischen Verfassung herauszustellen, einerseits das von der amerikanischen Besatzungsmacht bestimmte Pilotprojekt der Demokratisierung gewesen zu sein, aber andererseits auch das Resultat eines selbstständigen demokratischen Bewusstseins mit einem weitreichenden Horizont, dies muss seinen angemessenen Platz in unserer Erinnerungskultur finden.
[1] Vorsitzender des Verbandes Hessischer Geschichtslehrerinnen und -lehrer.
[2] Ute Sacksofsky: Die Hessische Verfassung: historisches Dokument oder anspruchsvolle Landesverfassung? Die Diskussionen um ihre Aktualtität, in: Jürgen Kerwer (Hrsg.): Zwischen Kriegsende und modernen Ansprüchen: 70 Jahre Hessische Verfassung. Ausgewählte Debattenbeiträge. Polis 58, Hessische Landeszentrale für politische Bildung, Wiesbaden 2017, S. 18.
[3] Walter Dirks: „Die Zweite Republik. Zum Ziel und zum Weg der deutschen Demokratie“, in: Frank-furter Hefte N°1, 1946, S. 16.
[4] Es sei mir hier gestattet zu verweisen auf Wolfgang Geiger: Weimar | Bonn | Berlin. Lehren aus der Geschichte. Frankfurt a.M. (Humanities Online) 2019. (Kap. 2: „Republik ohne Republikaner“? Das Zerrbild von der ersten deutschen Demokratie; Kap. 3: „Vergangenheitsbewältigung“ und Gründungsmythen in Ost und West nach 1945).
[5] Ludwig Bergsträsser, Denkschrift für Wilhelm Leuschner, 1942, Hessisches Staatsarchiv, zit. nach Walter Mühlhausen: Demokratischer Neubeginn in Hessen 1945-1949. Lehren aus der Vergangenheit für die Gesaltung der Zukunft. Polis 43, Hessische Landeszentrale für politische Bildung, 2. Aufl. 2022, S. 7.
[6] [Daniel Lerner]: »Notizen von einer Reise durch das besetzte Deutschland (Anfang April 1945)«, in: Ulrich Borsdorf/Lutz Niethammer (Hrsg.): Zwischen Befreiung und Besatzung. Analysen des US-Geheimdienstes über Positionen und Strukturen deutscher Politik 1945. Wuppertal (Hammer),
1976, Weinheim (Beltz Athenäum), 1995, S. 39.
[7] Cf. Anna J. Merrit/Richard L. Merrit: Public Opinion in Occupied Germany – The OMGUS Surveys, 1945-1949. Urbana/Chicago/London (University of Illinois Press), 1970; Marlis G. Steinert: „Zwischen gestern und morgen. Volksmeinung und öffentliche Meinung in der französischen Besatzungszone,
1945-47, im Spiegel französischer Quellen“, in: Klaus Manfrass/Jean-Pierre Rioux (Hrsg.): France-Allemagne 1944-1947, Cahier de l’Institut d’histoire du temps présent (Paris), N°13/14, déc. 1989/janv. 1990, S. 47-80.
[8] Der Verfassungsentwurf des Vorbereitenden Verfassungsausschusses, 18. Juni 1946, in: Helmut Berding (Hrsg.): Die Entstehung der Hessischen Verfassung von 1946. Eine Dokumentation. Wiesbaden (Historische Kommission für Nassau) 1996, Dok. 18, S. 178.
[9] Mühlhausen, op. cit., S. 23f.
[10] Zu den linkskatholischen Parteigründungen im Vorfeld der späteren CDU in Hessen cf. Martin Will: Die Konstituierung Hessens nach dem 2. Weltkrieg, in: ZHG Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde, Bd. 108, 2003, S. 242f., Zusammenfassung von Will, Die Entstehung der Verfassung des Landes Hessen von 1946. (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts). Tübingen (Mohr Siebeck) 2009, dort S. 32ff.
[11] Die Verfassungsberatende Landesversammlung, Erste Lesung im Plenum, Knothe (SPD), in: Berding, op. cit., Dok. 40, S. 415f.
[12] Erste Lesung, 5.8.1946, Köhler (CFU), a.a.O., S. 433, 430
[13] Sitzung vom 6.8.1946, Bergsträsser (SPD), a.a.O., S. 458. (Zitat grammatikalisch umgestellt.)
[14] Cf. Will, Verfassung, S. 195ff. und 223f.
[15] Cf. Mühlausen, S. 35f.
[16] Der Vorbereitende Verfassungsausschuß, Sitzung vom 21.3.1946, in Berding, Dok. 5b, Hoch, S. 15.
[17] Cf. Will, Verfassung, S. 58ff.
[18] D.h., es reichten 5% in einigen Ländern, mindestens in einem, um mit den dort gewonnenen Stimmen ein Recht auf Vertretung im Bundestag zu bekommen. Mit 10 Parteien ähnelte der 1. Bundestag noch sehr dem Reichstag der Weimarer Republik und Konrad Adenauer bekam nur eine Stimme Mehrheit für die Wahl zum Bundeskanzler.
[19] Zur Kompromissfindung ausführlich Will, Verfassung, S. 452-484. – Die Geheimverhandlungen zwisfdhen SPDS und CDU, 29.-30.9.1946 / Das Protokoll der Vereinbarungen ztwsichen SPDund CDU, 30.9.1946, in:; Berding, Dok. 58 und 59, S. 963-966.
[20] Cf. Mühlhausen, S. 40f.; Will, Verfassung, S. 364ff.; Berding, S. 965.
[21] Cf. Will, Verfassung, S. 366, 541ff.; Gerd Winter: Sozialisierung in Hessen 1946-1955, in: Kritische Justiz, Jg. 7, Nr. 2 (1974), S, 157-175, hier v.a. S. 157-163.
[22] Cf. Die Verfassungsberatende Landesversammlung, Sitzung vom 20.8.1946, in Berding, Dok. 45, S. 598-605.
[23 In Berding, S. 179.
[24] Denazifizierung, Demilitarisierung, Dezentralisierung, Demokratisierung
[25] Kommuniqué der Konferenz von Jalta, 12.2.1945, in: Siegfried Kappe-Hardenberg (Hrsg.): Die Jalta-Dokumente. Rossevelt, Churchill und Stalin auf der Krimkonferenz im Febuar 1945. Leoni am Starnberger See (Druffel) 1987, S. 560.