Die Botschaft Eugen Kogons von 1945 an uns heute
Vortrag auf der Veranstaltung 80 Jahre Kriegsende und demokratischer Neuanfang in Kooperation mit der Stadt Oberursel am 24.11.2025
Text erhältlich als pdf Die_Botschaft_Eugen_Kogons_1945_und_wir_heute
„Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“
Richard von Weizsäcker, 8.5.1985[1]
Ernst von Weizsäcker hat in diesem Satz seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, weniger beachtet als der Satz zur Befreiung darin, etwas formuliert, das nach 1945 weit verbreitet war: Das Übel kam als „Ansteckung“. Der Nationalsozialismus wurde gerne als eine Art Virus gesehen, und selbst der heute immer noch viel zitierte Philosoph Theodor Adorno hat in den 1950er Jahren dieses Bild aufgenommen und von der „Schutzimpfung“ gesprochen, derer die Deutschen bedürften, um sich gegen solche Ansteckungsgefahren zu immunisieren.
Wenn die Schutzimpfung in der Konfrontation mit der Unmenschlichkeit durch die Erinnerung an sie besteht, so haben wir heute nicht nur eine Schutzimpfung, sondern sogar viele Auffrischungen bekommen. Allerdings ohne die erhoffte „Herdenimmunität“, ein neuer Begriff aus der Corona-Zeit, die uns dagegen schützen würde. Zu dieser Demokratie, die einst aus der Lehre von ihrer Zerstörung entstanden ist, gehen heute mehr und mehr Zeitgenossen auf Distanz – in Umfragen, im Wahlverhalten, in öffentlichen Reden oder auch in Taten.[2]
Für Eugen Kogon war es in der Rückschau unmittelbar danach keine Ansteckung von außen, die die Deutschen getroffen hatte, und vor der sie nach 1945 noch nicht so schnell geheilt waren. Sondern für Kogon ging es um etwas, das von innen kam, das man damals aber auch gerne als Verführung durch Hitler entschuldigte. In einer religiösen Sicht, die der Katholik Kogon hierfür säkularisierte, ist nicht der Teufel als Verführer an meinen Sünden schuld, sondern ich selbst bin es, weil ich mich habe verführen lassen, schuldig an dem, zu dem ich mich verführen lasse.
Auch eine tradierte und verinnerlichte preußische Autoritätshörigkeit, die Kogon durchaus diagnostizierte, konnte keine Entschuldigung für den Einzelnen sein, wie es in der Nachkriegszeit auch als Variante der „Ent-Schuldung“ versucht wurde.
„Wo die vielen einzelnen hingegen dem Anruf ihres persönlichen Gewissens nicht Folge geleistet oder das Gewissen in sich getötet haben, und wäre es nur durch Gewöhnung, da liegt in der Tat Schuld vor.“[3]
Die „Schutzimpfung“ durch die Erinnerung konfrontiert uns aber primär mit den Folgen der damaligen Infektion und darunter natürlich mit dem Schlimmsten: mit dem Vernichtungskrieg und mit den Vernichtungslagern. Das ist auch gut so. Aber reicht dies, erklärt uns das, wie es begann und warum? –
Was, nur 56.000 Tote? Die Überraschung darüber in Buchenwald habe ich mehrfach von Schülern bei unseren jährlichen Jahrgangsfahrten nach Weimar explizit gehört oder implizit spüren können. Das Ranking des Horrors nach Opferzahlen blendet seine Ursprünge aus. Dass die KZs für (überwiegend) politische Häftlinge den Vernichtungslagern lange voraus gingen und die Voraussetzung für alles Weitere waren, ist in den Hintergrund getreten. (In der DDR war es umgekehrt, aber das ist hier nicht unser Thema).
Kogons genaue Beschreibung der Vorgänge in Buchenwald und seine Analyse des „Systems der deutschen Konzentrationslager“ waren das erste Buch seiner Art, wurde zum Bestseller und blieb es noch lange. Kogon kommt darin aber auch auf die Nachkriegssituation und die Schuldfrage zu sprechen, seine Kritik einerseits an den problematischen Entnazifizierungsmethoden der Amerikaner – erstaunlich, weil er das Buch immerhin in Kost und Logis der Besatzungsbehörde schrieb – und seine Kritik andererseits an der mangelnden Aufrichtigkeit der Deutschen, sich der Schuldfrage von sich aus zu stellen. Themen, die er und Walter Dirks in der von ihnen ab März 1946 herausgegebenen Zeitschrift Frankfurter Hefte, die damals bedeutendste ihrer Art, weiterführten.
Weniger beachtet dabei blieb ein Aspekt, den ich hier kurz ansprechen möchte. In Reaktion auf den Eichmannprozess in Jerusalem 1961 schrieb die nach Amerika emigrierte Philosophin Hannah Arendt von der „Banalität des Bösen“. Das war damals sehr umstritten und ist es noch. Dennoch ist es in die Geschichte eingegangen. Wer weiß aber, dass Hannah Arendt schon 1946-48 den Kern dieser These entwickelt hat, zusammen mit dem Ansatz zu ihrer Totalitarismustheorie, in der Zeitschrift Die Wandlung, damals die wichtigste neben den Frankfurter Heften. Sie tat dies aufgrund erstaunlicher Informationen über die Vorgänge im besetzten Europa, die sie in den USA bekommen konnte, und dann auch in der Bestätigung dessen durch die Lektüre von Kogons SS-Staat und des Buches des Franzosen David Rousset, das auf Deutsch erst Jahrzehnte später herauskam.
Die Totalitarismustheorie und die These von der Banalität führen darin zusammen, dass die Täter keine besondere Spezies von Menschen waren, sondern „ganz normale Männer“, oder „lauter pflichtbewusste Leute“, nach späteren Buchtiteln anderer Autoren.[4]
Dies alles findet sich schon, weniger ausgearbeitet, aber ausreichend angedeutet, bei Kogon: Die SS-Leute, denen er vor Ort in Buchenwald durch seine Schreibstubentätigkeit bei dem Lagerarzt Dr. Ding-Schuler auch auf andere Weise begegnen konnte, und weitergehende Überlegungen danach brachten Kogon zu einer Kategorisierung von Tätertypen, von denen nur wenige dem Bild des Unmenschen entsprachen, das man sich von ihnen machte und im Allgemeinen auch noch macht, wie mir scheint. Kogon entwickelte den Ansatz dazu schon in seinem Buch selbst, also noch 1945, und ergänzte dies später.
Bei den Tätern des SS-Terrors denken wir an Triebtäter im engeren wie in einem weiter gefassten Sinne, mit unterdrückten Emotionen, die dann durch Gewalt befriedigt wurden – also Sadisten. Diese gab es.
Ein viel größerer Kreis aber teilte mit ihnen die Prägung durch ihre soziale und persönliche Herkunft als Gescheiterte – ein relativer Begriff, jeder auf seinem Niveau –, mit Minderwertigkeitskomplexen behaftet, und deren Autoritätshörigkeit gegenüber jenen, denen sie unterworfen waren, dadurch kompensiert wurde, dass sie Autorität über andere hatten und entsprechend ausübten.
Für wieder Andere, vor allem die später Hinzugestoßenen, ging es um Ordnung, Befehl und Gehorsam, weil sie mit der Freiheit weder allgemein noch für sich selbst zurechtkamen. Dies entspricht einer frühen soziologischen Erkenntnis der damals noch nicht so genannten „Frankfurter Schule“, noch vor 1933, durch eine umfragebasierte Untersuchung in der Bevölkerung, die Erich Fromm dann im amerikanischen Exil Escape from Freedom titelte, auf Deutsch später als Die Furcht vor der Freiheit erschienen.
So machte es jene schon glücklich, ihr Minderwertigkeitsgefühl dadurch zu kompensieren, dass sie Teil dieses autoritären Systems waren. Dies gab ihnen den Halt von außen, den sie alleine in sich selbst nicht hatten. Mehr noch: In der SS gehörten sie schon durch ihre Mitgliedschaft zur „Herrenschicht“. Dabei hatten viele gar nicht die geforderten Voraussetzungen für die Elite: Weder einen lange zurückverfolgbaren Stammbaum – oft gar keinen –, noch die „Manneszucht“, die man nicht erst erlernen, sondern mitbringen sollte. Sie töteten und quälten nicht aus persönlichem Sadismus, sondern aus persönlich erfüllender Pflichterfüllung nach den „charakterlichen Werten“ der Schwarzen Garde. Für sie war dies, schrieb Kogon im SS-Staat,
„kein Opfer, das etwa Selbstüberwindung gekostet hätte, sondern ein gern, ja oft lustvoll angestrebtes Ziel. Glaube, Wille und Haltung, eine sittliche Charakterdreiheit, vor die Schweiß gesetzt ist, wenn sie von Wert sein soll, war hier, unter Beibehaltung ihres Ansehens, lächerlich leicht gemacht: der Glaube blind, der Wille gegen die andern gerichtet und die Haltung stramm.“[5]
Ab der zweiten, der Berliner Auflage seines Buches von 1947, ergänzte dies Kogon wie folgt:
„Wurde Grausamkeit für nützlich oder erforderlich gehalten – ‚notwendige Härte gegen andere‘ nannte sich das –, so galt Mitleid – ‚Humanitätsduselei‘ – eben als Regung des ‚inneren Schweinehundes‘, die unterdrückt werden mußte.“[6]
Dies entspricht dem Tenor der berüchtigten „Posener Rede“ von Himmler 1943, wo er selbst noch hochgradigen SS-Leuten sein Lob für die Überwindung von Resten moralischer Skrupel bescheinigte:
„Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.“[7]
Es ist die Verkehrung des Begriffes „Anstand“ in sein Gegenteil, kein Respekt vor einer allgemeingültigen Moral, sondern Gehorsam im Sinne des SS-Wahlspruches „Meine Ehre heißt Treue“. In seinen Notizen für die Rede zählte Himmler zum Begriff „Ehrlichkeit“ auch: „sich besiegen“.[8]
Es war eine „Umwertung aller Werte“ im Sinne von Nietzsche, wie sie auch andere Zeitgenossen in der „Sprache des Dritten Reiches“ erkannten, etwa Victor Klemperer in seinem gleichnamigen Buch, das in der Sowjetzone erschienen ist, aber offenbar nicht verbreitet wurde, die 2. Auflage wurde dann zensiert.[9]
Diese Umwertung aller Werte erklärte Kogon, ohne diesen Begriff zu gebrauchen, folgendermaßen: Wer dies
„[…] in der menschlichen Gesellschaft und ihren Ordnungen für gültig hält, muß jede Art von Recht zu einer Ausdrucksform der Freund-Feind-Theorie relativieren, die es ihm erlaubt, selbst die gemeinsten Mittel der Gewalt für gerechtfertigt anzusehen, sofern sie ihm in einem gegebenen Fall besser angebracht zu sein erscheinen […].“[10]
Das führt uns auch schon zum bürokratischen Tätertyp, den es auch gab und wie ihn Hannah Arendt in Eichmann erkannte. Kogon beschrieb dies so:
„Und selbst die blutigsten Maßnahmen werden heutzutage ja nicht selten wie glatte bürokratische Verfügungen, sozusagen rein technischer Art, ausgeführt.“[11]
Dies war 1948 auf dem Soziologentag in Worms, er ging dabei über die Vergangenheit hinaus und zog Parallelen zur damaligen Gegenwart mit Blick auf den Osten, im Sinne der Totalitarismustheorie Arendts, die damals in der Entstehung war.
In seinem Vortrag ging es Kogon um den „Terror“, nicht nur um den gerade beschriebenen, sondern angefangen vom ursprünglichen Sinne des Wortes: Erzeugung von Schrecken zur Einschüchterung und Unterdrückung:
„Man muß den Terror in seinen Anfängen, in seinen Erscheinungsformen, in seinen Praktiken und in seinen Folgen entlarven. Denn wir wurden Zeugen davon, und werden es noch immer, wie er sich inmitten heutiger Demokratien entwickelt, wie er zur Macht kommt und sich als Demokratie selbst ausgibt, geradezu als eine Regierungsform von Freiheiten.“[12]
Denken wir beim NS-Terror daran, dass die KZs bewusst auch zur Einschüchterung der breiten Massen dienten. Aber war dies überhaupt noch nötig?
Im historischen und, wenn man so will, „nationalpsychologischen“ Teil seiner Analysen schrieb Kogon auch schon 1945:
„Das deutsche Volk […] konnte rechtlich gesinnt sein und sich doch, als Volk, jeder autoritätsverkleideten Gewalt unterwerfen, so daß es den Terror schon fürchtete, ehe er überhaupt in Aktion trat.“ (Hervorhebung von mir)[13]
Ich komme zum Schluss. Kogon war kein großer Philosoph oder Soziologe, im Sinne eines Schreibers voluminöser Bücher, sein erstes blieb das einzige dieser Art, aber seine besondere Fähigkeit zeigte sich auch schon darin: Manchmal in nur einem Satz eine ganze Welt der Erkenntnis zu komprimieren.
Nicht nur deswegen lohnt es sich, Eugen Kogon, aber auch die ganze Debatte in der Nachkriegszeit für die Neubegründung der Demokratie wiederzuentdecken und die Bedeutung der damaligen Lehren aus der Geschichte für uns heute als Lehren aus diesen Lehren zu verstehen. Davon habe ich hier nur einen kleinen Ausschnitt ansprechen können.
Mehr finden Sie auf dieser Website, wo wir auch Texte von Eugen Kogon und Walter Dirks aus den Frankfurter Heften in einer Sammlung zusammengestellt haben, sowie Analysen dazu und zur Nachkriegszeit überhaupt.
[1] Ernst v. Weizsäcker, Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, 8.5.1985, Der Bundespräsident, Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa, https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Richard-von-Weizsaecker/Reden/1985/05/19850508_Rede.html?nn=129626
[2] Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung: „Die angespannte Mitte“ / FES-Mitte-Studie 2024/25
https://www.fes.de/mitte-studie/presse
[3] Eugen Kogon: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager. Frankfurt a.M. (Verlag der Frankfurter Hefte) 1946, S. 137.
[4] Ulrich Renz: Lauter pflichtbewusste Leute. Szenen aus NS-Prozessen. Köln (Bund-Verlag) 1989. – Christopher R. Browning: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen. Hamburg (Rowohlt) 1993.
[5] SS-Staat, 1946, S. 292f.
[6] SS-Staat, Berlin (Verlag des Druckhauses Tempelhof) 1947, S. 315.
[7] Rede des Reichsführers SS bei der SS-Gruppenführertagung in Posen am 4. Oktober 1943, „Die Judenevakuierung“ https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0008_pos&object=context&l=de
[8] Matthias Uhl u.a. (Hrsg.): Die Organisation des Terrors. Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1943-1945. München (Piper) 2020, S. 461 (4. Oktober 1943)
[9] Cf. Nicolas Berg: Sprachkritik und Autobiographie. Über Victor Klemperers »LTI. Notizbuch eines Philologen« (1947), in: Zeithistorische Forschungen, 2/2023, https://zeithistorische-forschungen.de/2-2023/6141
[10] Eugen Kogon: Der Terror als Herrschaftssystem, Referat auf dem 9. Deutschen Soziologentag 1948, in: Schriften der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, I. Serie, IX. Band, Tübingen (Mohr) 1949, S. 131; zuerst in Frankfurter Hefte, 3. Jg., H. 11, November 1948, S. 1001, und in den Neuauflagen vom SS-Staat ab 1948 als neues erstes Kapitel eingefügt, hier SS-Staat, Frankfurt/M: (Verlag der Frankfurter Hefte) 1948SS-Staat, 1948, S. 4.
[11] Der Terror als Herrschaftssystem, op. cit., SS-Staat 1948, S. 8.
[12] A.a.O., S. 2.
[13] SS-Staat, 1946, S. 334.