Eugen Kogon - Gedanken zum Gedenken
Dr. Wolfgang Geiger
Ansprache auf der Veranstaltung „Königstein im Blick“ der drei historischen Königsteiner Vereine zur gemeinsamen erinnerungskulturellen Initiative am Internationalen Tag der politischen Gefangenen, 18.3.2024.
„Wir kennen aus TV-Krimis die tote Hand, die aus der Müllhalde ragt“, schrieb Michael Kogon 2001. „Von meinem Vater ragt – ach, gewiss, ein makabres Bild – noch der mahnende Zeigefinger aus dem Müll der Geschichte heraus.“[1]
Wer sieht den Zeigefinger heute? Ist er wichtig noch oder kann er doch im sich weiter anhäufenden Müll der Geschichte untergehen?
Mit diesem Denk-Bild des Sohnes von Eugen Kogon möchte ich einige Gedanken zum Gedenken an Eugen Kogon und zum Nach-Denken fast vier Jahrzehnte nach seinem Tod formulieren. Ich hatte hier in Königstein nun schon mehrfach Gelegenheit, und danke dafür, zu Fragen der Neubegründung der deutschen Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg und zur Bedeutung von Eugen Kogon dabei sowie zur seltsamen Erinnerungskultur dieses Staates ohne Geburtstag zu sprechen.[2] Überlebender, schrieb sie 1947 in der neuen Zeitschrift Die Wandlung, die „antizipierende Angst“ vor der Wiederkehr habe „den großen Vorteil, die sophistisch-dialektischen [= gekünstelten] Interpretationen der Politik aufzulösen, die alle auf dem Aberglauben beruhen, daß aus dem Bösen etwas Gutes entstehen könne.“[3]
Nun, rückwirkend galt das aber doch noch für das gerade Erlebte und Überlebte insofern, als es eben diese Augenzeugenberichte und ihre Lehren, auch diese Lehre, die Arendt daraus zog, gegeben hat.
Können Gefängnisse also auch in einem indirekten, dialektischen Sinne „Orte der Demokratiegeschichte“ sein? Für die Festung Königstein fällt das leichter als für das KZ Buchenwald. Die DDR hatte gewiss kein Problem damit, den Schwur und das Manifest von Buchenwald zur Legitimation für die SED und Buchenwald insgesamt zum propagandistischen Symbol für die aus dem Geist des Antifaschismus und des Widerstandes hervorgegangene DDR zu machen.
Spiegelverkehrt hatte die Bundesrepublik lange Zeit ihr Problem mit diesen politischen Gefangenen des NS-Regimes, waren es denn nicht vorwiegend Kommunisten gewesen (sieht man einmal von Pastor Niemöller unter den Prominenten ab)? Die Sozialdemokraten und anderen Demokraten hatten es schwer, ihr eigenes Vermächtnis davon abzusetzen, schien es doch kompromittiert durch die Zusammenarbeit mit kommunistischen Häftlingen, so auch in der „Volksfront“, die unter Buchenwald-Häftlingen von Kommunisten über Sozialdemokraten wie Hermann Brill und Christdemokraten wie Werner Hilpert gebildet wurde. Wer mochte in Westdeutschland anschließend noch von der Volksfront sprechen?
Dass es dennoch gelungen ist, aus Buchenwald die Analyse des Systems des KZ-Terrors ziemlich schnell in die Mitte einer Gesellschaft zu bringen, die davon eigentlich nichts wissen wollte, ist Eugen Kogons Verdienst. Sein SS-Staat ist eines der ganz wenigen Werke, die so schnell Erfahrungsbericht und politische Analyse bereits miteinander verbinden konnten. Das andere auf diese Ebene ist das Buch des schon erwähnten Franzosen David Rousset, der für Frankreich ungefähr die Rolle spielte wie Kogon in Deutschland, was die Lehren aus der Vergangenheit anging. Die Besprechung durch Hannah Arendt war damals allerdings die einzige Möglichkeit in Deutschland, von Roussets Buch zu erfahren, es war noch nicht auf Deutsch verfügbar, es erschien erst, man glaubt es kaum, 2020!
Die Situation für Frankreich war natürlich auch eine andere. Das KZ-Universum hatte Frankreich in sich hineingezogen, in Deutschland kam es von innen heraus. In Deutschland musste eine neue Demokratie gefunden, erfunden werden, in Frankreich nicht. Kogons Lehren aus der Buchenwald-Erfahrung hatten also viel weiter reichende Konsequenzen und deswegen widmete et ja Anfang und Ende seines Buches diesem Thema. Wenn der Terror von innen heraus entstanden ist, muss er auch nachträglich nach innen hinein ausgemerzt werden. Frankreich konnte seine Kollaboration mit Nazi-Deutschland durch den Mythos der Résistance und der Quasi-Selbstbefreiung mit den Alliierten 1944 übertünchen, Deutschland wurde mit dem Kollektivschuldvorwurf konfrontiert.
Kogon übte vehemente Kritik an der formalistischen Entnazifizierung durch die Amerikaner, die eine innere Entnazifizierung eher behinderte als förderte: „Ihr alle seid schuldig! Wegen des argen Geschreis um sie und wegen der eigenen Blindheit wollten sie vom Insichgehen nichts mehr hören“, schrieb er im SS-Staat und in den Frankfurter Heften über die Wirkung auf die Deutschen.[4] Das hat ihm damals viel Applaus von falscher Seite eingetragen, die hier nur die Kritik an den Amerikanern herauslas, und das ist auch heute noch in etlichen wissenschaftlichen Abhandlungen so, zumal Kogon kurze Zeit später auch noch vom „Recht auf politischen Irrtum“ sprach. War es vielleicht der heimliche Grund, warum das Buch so ein Bestseller wurde? Verbanden viele die Lektüre über das System der deutschen Konzentrationslager mit der Abwehr „Damit haben wir nichts zu tun, das war die SS“?
In einem Bericht der Lagerinsassen im Buchenwald-Report wird erzählt, wie unmittelbar nach der Befreiung durch die Amerikaner Telefonanrufe aus Weimar in Buchenwald ankamen, darunter von einer Telefonistin aus dem Fernsprechamt, die „fragte, ob es wahr sei, daß 5000 Häftlinge ausgebrochen wären. Wir beruhigten sie, worauf sie sagte: ‚Ich bin ja so froh, daß sie alle noch da sind!‘“[5] Gemeint war natürlich: dass sie noch dort sind. Da standen die Zwangsbesichtigung in Buchenwald und die Plakate der Amerikaner „Das ist eure Schuld“ noch bevor, letztere nicht mehr für die Thüringer, doch die Sowjets und die ostdeutschen Kommunisten verfolgten anfangs, so ungefähr bis 1947, durchaus auch noch eine Variante des Kollektivschuldvorwurfs, um dadurch ihren moralisch-politischen Machtanspruch zu legitimieren, bis man dann das Volk in der Masse zu zumindest innerlichen Widerständlern erklärte.
„Wir haben nicht gelernt, uns mit der Vergangenheit, mit der faschistischen Mitläufergeneration unserer Eltern auseinanderzusetzen“, sagte eine DDR-Bürgerin und Journalistin am 3. Januar 1990 im damals Noch-DDR-Fernsehen, „weil nur zu schnell von unbewältigter Vergangenheit zu einer neuen, lichten Zukunft übergegangen wurde.“ (Exponat in der Gedenkstätte Buchenwald).
Eugen Kogon stellte sich dieser Tabula rasa der „Stunde Null“, die sich massiv auf beiden Seiten, wenn auch unterschiedlich, aufdrängte, entgegen. Im ersten seiner ständig neuen Vorworte zum SS-Staat schrieb er, dass sein Buch ein „Ecce-Homo-Spiegel ist“ – Ecce homo: Das ist der Mensch oder So ist der Mensch – ein Spiegel, „der nicht irgendwelche Scheusale zeigt, sondern dich und mich, sobald wir nur dem gleichen Geiste verfallen, dem jene verfallen sind, die das System geschaffen haben“, und deswegen „muss er uns vorgehalten werden.“ – „Ich für meine Person“, sagt er an anderer Stelle, „mißtraue der menschlichen Natur, die, wie die Geschichte und jedes Ehrlichen eigene Erfahrung lehrt, zum Bösen geneigt ist. Vor allem der Weg der Hybris [des Hochmuts], einmal betreten, birgt zwingende Konsequenzen in sich, an seinem Ende erwarten uns haufenweise die Laster [ein heute veraltetes Wort: die negativen Eigenschaften], die wir heute, an anderen, noch heftig verabscheuen, denen wir uns aber morgen schon, verblendet und stolz, in die Arme werfen.“[6] Denn dazu gehörte auch, traditionelle Moralvorstellungen in ihr Gegenteil zur verkehren. Zum Beispiel die Lüge in der Politik. In ihrer Analyse ausgehend von Kogon und Rousset schreibt Hannah Arendt: „Hitler hat in Millionen von Exemplaren verbreitet, daß Lügen nur dann Erfolg haben können, wenn sie enorm sind.“[7] Und dies nicht etwa, weil sie für wahr gehalten wurden, sondern weil sie imponiert haben. All das kommt mir sehr aktuell vor.
Nun, die Demokratie, die nach 1945 daraus hervorgegangen ist, hat sich bislang als stabiler erwiesen, hat auch mit Spätwirkung auf die DDR und ganz Osteuropa ausgestrahlt und schreitet dennoch Schritt für Schritt von dem nach 1990 Errungenen wieder zurück. Das „Wehret den Anfängen“ ist inzwischen so abgenutzt, dass wir kaum noch merken, wann sie beginnen. Und doch: „Nie wieder ist jetzt!“ hieß es dann in den unerwartet machtvollen Demonstrationen der letzten zwei Monate.
„Erinnerungsorte“ sind in den letzten Jahrzehnten nach der von Frankreich ausgehenden neuen Konzeption, Geschichte in der kollektiven Erinnerung festzuhalten, nicht nur Orte im geographischen Sinn, es sind vielmehr Knotenpunkte im Universum der Erinnerung, d.h. dessen, was für uns aus der Geschichte bedeutsam ist. Die Erfahrung aus Buchenwald und alle weiteren Konsequenzen, die Eugen Kogon daraus gezogen hat, gehören gewiss dazu und sind Teil der jüngeren Demokratiegeschichte. Vielleicht kann dieser virtuelle Ort der Demokratiegeschichte in Königstein mehr als nur durch einen Straßennamen verortet werden? In Falkenstein gibt es ein Bürgerhaus, das sanierungsbedürftig ist. Könnte seine wie auch immer geartete Erneuerung nicht auch mit dem Geist Eugen Kogons gefüllt werden, indem ihm dort auch ein Platz, ein Ort, im Haus zur Erinnerung gewidmet wird durch eine permanente Ausstellung? Dies wäre eine Bitte an die Verantwortlichen in der Stadt. Lassen wir doch dort vor Ort Eugen Kogons „mahnenden Zeigefinger aus dem Müll der Geschichte“ herausragen!
[1] Michael Kogon: Eugen Kogon – sein Leben, sein Werk. Die Geschichte einer Erinnerung, in: TU Darmstadt (Hrsg.): Das Maß aller Dinge. Zu Eugen Kogons Begriff der Humanität. TUD Schriftenreihe Wissenschaft und Technik 81, Darmstadt 2001, S. 14.
[2] Cf. Staat ohne Geburtstag. Zur merkwürdigen Erinnerungskultur der Bundesrepublik. Vortrag auf dem Abend der Verfassungen in Königstein am 23.2022; Robert Kempner, Eugen Kogon und die Demokratie „im Reagenzglas“ nach 1945, in: Kulturelles Erbe Königstein – Berichte 2023-1, S. 68-86 (mit Bildmaterial), Text pur hier auf der Website; Eugen Kogon, ein geistiger Mitbegründer der Nachkriegsdemokratie, Vortrag zur öffentlichen Vorstellung des gegründeten Vereins am 10.11.2023 in Königstein
[3] Hannah Arendt: Konzentrationslager, in: Die Wandlung, 3. Jg., H. 4, S. 313
[4] Eugen Kogon, Der SS-Staat, 1946, S. 325, 328 (= Gericht und Gewissen, in: Frankfurter Hefte 1/1946).
[5] Bericht von Armin Walther, in: Der Buchenwald-Report. Bericht über das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar, herausgeg. von David A. Hackett, München (Beck) 1996, S. 366.
[6] Eugen Kogon: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager. Frankfurt/Main (Verlag der Frankfurter Hefte) 1946, Vorwort, S. V f.
[7] Arendt, Konzentrationslager, op. cit., S. 312.