Kogon und wir - unsere Aktivitäten

Auf dieser Seite:

18. Mai 1948 „Rede an die Deutschen“

75 Jahre Neue Demokratie / Staat ohne Geburtstag

______________________________________________________________________________________________________________________________

18. Mai 1848 – 18. Mai 1948 – 100 Jahre Paulskirche – Fritz von Unruh "Rede an die Deutschen“

Erinnerung an die Veranstaltung und Bezug zur Aktualität

Die „Rede an die Deutschen“ von Fritz von Unruh am 18. Mai 1948 zählt zu den wichtigsten Reden der deutschen Demokratiegeschichte, insbesonders im Kontext der damals sich schon abzeichnenden Weststaatsgründung. Sie ist zugleich eine der ersten Reden unserer Demokratiegeschichte, die medial in allen Formaten erhalten ist (Text, Film, Tondokument, Fotografien). In einem Bogen von 1948 zurück zu 1848 beleuchtet der Redner, für die zweite Hälfte mit seiner Biographie verbunden, den dazwischen liegenden Weg zur Demokratie und ihrer Zerstörung in der Katastrophe des Nationalsozialismus und stellt daraus hervorgehende Fragen an die Lehren aus dieser Geschichte.

Unser Projekt: Eine Publikation, online bewusst auch in Verbindung und Vergleich mit der großen Veranstaltung „Demokratie verteidigen“ am 20. Januar 2024, soll ein öffentliches Bewusstsein für die Rolle der Paulskirche für die bundesdeutsche Demokratie schaffen und die historische Bedeutung des Ortes unterstreichen bzw. die Eignung des Events von 1948 für das bei der Paulskirche geplante „Haus der Demokratie“ verdeutlichen.

Eugen Kogon hat damals das Vorwort zu dieser von ihm als Schrift herausgegebenen Rede Fritz von Unruhs verfasst und dadurch selbst noch einen Beitrag zum historischen Wendepunkt 1948 – Rückblick und Vorschau – verfasst.

Die Schrift wird neu als Print herausgegeben in Beibehaltung des Originalformats, erweitert zum besseren Verständnis für heute durch eine zusätzliche Einleitung und Annotationen zu den zahlreichen historischen und kulturgeschichtlichen Anspielungen von Unruhs.
Eine digitale Ausgabe, die in unsere Website integriert wird, enthält dann zusätzliche Materialien (Bild, Audio, Video).

Oberbürgermeister Walter Kolb und Fritz von Unruh und die politische Prominenz des 18. Mai 1948 auf dem Weg in die Paulskirche. Rechts die Ruinen des Salzhauses am Römerberg. Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt.



75 Jahre Neue Demokratie

Zum erinnerungskulturellen Stellenwert des  Grundgesetzes und der Entstehung der Bundesrepublik

Die Eugen-Kogon-Gesellschaft entstand als eine Konsequenz aus der Beschäftigung des Neuen Königsteiner Kreises mit der Neugründung der Demokratie in Hessen (Landesverfassung) und in (West-)Deutschland  (Grundgesetz) sowie der Rolle Königsteins als Tagungsort verschiedener Institutionen in diesem Zusammenhang.

Am 23.5.2023 fand dazu ein „Abend der Verfassungen“ in Königstein statt, an dem  Verband der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands (VGD), vertreten durch den hessischen Landesvorsitzenden Wolfgang Geiger (später auch Vorsitzender Eugen-der Kogo-Gesellschaft), mitwirkte. Der Verband Hessischer Geschichtslehrerinnen und -lehrer (VHGLL) hat die Veranstaltung dokumentiert, die es hier als  pdf zum DownloadAbend_der_Verfassungen_23.5.22 gibt..

Im Folgenden der Wortlaut des Vortrags von Dr. Wolfgang Geiger:

Staat ohne Geburtstag

Zur merkwürdigen Erinnerungskultur der Bundesrepublik

von Wolfgang Geiger

Lieber Herr Schlott, Herr Feldkamp, Herr Sprenger für die Einladenden und alle anderen, hier Mitwirkenden auf der Tribüne und heute Anwesenden im Saal! (1)

Ich freue mich sehr, dass diese Veranstaltung hier und heute nach langer und beschwerlicher Vorbereitung stattfinden kann und ich hier für den Verband der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands als Vorsitzender des hessischen Landesverbandes zu Ihnen sprechen darf.

Mein Thema, das ich nur kurz umreißen kann, ist die in jedem Sinne des Wortes merk-würdige Erinnerungskultur der Bundesrepublik. Die Bundesrepublik ist wohl einer der wenigen Staaten der Welt und vermutlich der einzige in Europa, der keinen Geburtstag hat, will heißen: keinen, der offiziell gefeiert wird, als Nationalfeiertag, oder an den zumindest in gebührender Form jährlich erinnert wird. Gewiss erfolgte die Geburt der Bundesrepublik etwas seltsam, in umgekehrter Reihenfolge, könnte man sagen: Erst war die Verfassung da – Pardon, das Grundgesetz –, dann wurde die Volksvertretung gewählt. Stimmt jedoch nicht ganz: Es gab ja schon Länderparlamente und diese beschlossen das Grundgesetz. Es trat am 23. Mai 1949 in Kraft, vom Parlamentarischen Rat beschlossen zur Vorlage für die Landtage wurde es aber am 8. Mai, und zwar nicht zufällig, Konrad Adenauer forcierte sogar noch die Abstimmung vor Mitternacht. Auf den Tag genau vier Jahre nach Kriegsende sollte die Nachkriegszeit zu Ende gehen. Das war gut bedacht!

Warum hat die Bundesrepublik das nie gefeiert? Weil sie sich zunächst als Provisorium verstand, wie wir wissen, aber schon wenige Jahre nach der Gründung – und eigentlich wusste man es vorher schon, spätestens durch die Berlin-Blockade – war doch klar, dass dieses Provisorium andauern würde. Und selbst als Provisorium hätte man den Geburtstag feiern können, nämlich als den des besseren weil demokratischen Teil Deutschlands, als den sich die DDR allerdings auch verstand – umso mehr ein Grund! Die DDR hatte ihren „Tag der Republik“, die Bundesrepublik – ja, „feierte“ nicht…, beging aber dann den gescheiterten Aufstand in der DDR am 17. Juni 1953 als „Tag der deutschen Einheit“. Es war arbeitsrechtlich ein Feiertag, aber erinnerungskulturell eine Art Nationaltrauertag.

So verstand sich die Bundesrepublik nie wirklich als sich selbst, sondern immer im Gegenüber zum „anderen Teil Deutschlands“, bis hin zum heutigen Nationalfeiertag der Wiedervereinigung – immerhin der erste und bleibende positive Gedenktag.

Denn genau genommen waren alle Gedenktage in unserer mehr oder weniger offiziellen Erinnerungskultur, ob als gesetzlicher Feiertag gewürdigt oder nicht, Trauertage. Abgesehen von der deutschen Teilung gedachten wir nach einigem Zögern dem fehlgeschlagenen Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944, damit verbunden auch der Weißen Rose, der Befreiung des KZ Auschwitz (eine unglückliche Formulierung: nicht das KZ wurde befreit, sondern die dort verbliebenen, dem Tode geweihten Häftlinge gerettet), und auch die erste deutsche Demokratie, die Weimarer Republik, war keines positiven Andenkens wert: Wir dachten an ihren Untergang, nicht an ihre Gründung, und zum Teil heute noch dominiert in Geschichts- und Schulgeschichtsbüchern der Diskurs von der „Republik ohne Republikaner“, von der „ungeliebten Republik“, von der „von Anfang an zum Scheitern verurteilten Republik“ – alles gängige Zitate. Immerhin ändert sich nun die Erinnerung an die Weimarer Republik seit den Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag ihrer Gründung – und nicht zuletzt, weil dies mit dem Wiederaufleben politischer Kräfte zusammentraf, die ein ganz anderes Verhältnis zu unserer Geschichte und Demokratie haben.

Heute muss man sich daher schon verteidigen, nicht Herrn Höckes oder Herrn Gaulands Geistes zu sein, wenn man darauf verweist, wie sehr unsere Erinnerungskultur von einem Mea culpa wegen Hitler und dem Holocaust geprägt ist, wenn auch jetzt wie gesagt eine Differenzierung einsetzt, eine Komplettierung des Geschichtsbildes durch Betonung die Demokratiegeschichte, an der wir hier und heute mitwirken wollen. Vorreiter hierbei – das sollte nicht vergessen werden – ist Gegen Vergessen – für Demokratie, wo im Vereinsnamen schon sehr gut die notwendige erinnerungskulturelle Doppelseite zum Ausdruck kommt.

Als Björn Höcke noch lange nicht wusste, dass er einmal seine Dresdner Rede halten würde, habe ich schon 2012 vor dem Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit auf das Mea-culpa-Syndrom hingewiesen – ja, in diesen Worten und ohne Widerspruch hervorzurufen, weil in ganz anderer Absicht als später Höcke –, da diese Erinnerung ans Negative nicht reicht, um die Dämonen der Vergangenheit zu bannen, wir brauchen genauso die andere Seite der historischen Medaille. Ich sage das auch und vor allem als Geschichtslehrer: Denn die negative Erinnerungskultur – die, ich betone es noch einmal, als solche berechtigt und notwendig ist, aber eben nicht einseitig –, hat nicht unbedingt den gewünschten erzieherischen Effekt zur Folge. Seit vielen, vielen Jahren muss ich schmerzlich zur Kenntnis nehmen, dass sich in vielen meiner Schülerinnen und Schüler – und in Abiturprüfungen sehe ich dies auch bei anderen – die Vorstellung eingeprägt hat, dass die Deutschen unfähig zur Demokratie gewesen seien, solange bis die (West-)Alllierten nach 1945 ihnen die Demokratie quasi eingebläut haben – Demokratie dank Reeducation. Dies ist wahrlich nicht die Zielsetzung meines Geschichtsunterrichts aber es scheint stärker als ich zu sein.

Gewiss konnten auch Zeitgenossen 1945 und in den Jahren danach die deutsche Geschichte bis dahin ebenso pessimistisch sehen und ihnen ist es wahrlich nicht zu verdenken. Walter Dirks schrieb in der ersten Ausgabe der von ihm mit Eugen Kogon herausgegebenen Frankfurter Hefte im April 1946: „Zum zweiten Mal ist den Deutschen eine Revolution geschenkt worden. […] Der Sieger hat die vormals herrschende Macht zerschlagen, nicht wir.“(3) Ja, die deutsche Demokratie ist zweimal aus dem verlorenen Krieg hervorgegangen, denn der 8. Mai 1945 war ein Tag der Erlösung auch für uns, nach dem Wort von Theodor Heuss im Parlamentarischen Rat, für ihn damals jedoch Ausdruck einer Paradoxie: „Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.“(4) Wer war aber mit dem „Wir“ gemeint? Konnte man sich mit jenem Staat noch identifizieren? Hätte es einen anderen Kriegsausgang geben können oder sogar sollen? Die bedingungslose Kapitulation war beschlossen, eine Wiederholung von 1918 ausgeschlossen, die Alliierten hatten als erste die Lektion der Geschichte verstanden. Doch der Vorstoß von Bundespräsident Richard  von Weizsäcker zum 40. Jahrestag 1985, das Kriegsende als Befreiung zu verstehen, traf auch damals noch und selbst im Bundestag auf vernehmbares Missfallen – und auf den Boykott einer Gruppe von Abgeordneten –, insgesamt nur eine Minderheit, aber trotzdem wurde aus der Rede Weizsäckers nichts weiter. Bis dieses Mal war der 8. Mai war seit etlichen Jahren noch nicht einmal mehr einer Erwähnung in den Hauptnachrichten unseres öffentlich-rechtlichen Fernsehens wert, ich verfolge das jedes Jahr, und wenn ich tatsächlich nichts übersehen habe, dann stammt die letzte Erinnerung daran aus dem Jahr des Amtsantritts von Bundespräsident Gauck. Doch diesmal war alles anders, allerdings der Aktualität geschuldet und dennoch ein bedenkenswerter Rückblick auf das Kriegsende: »Es war der militärische Sieg der Alliierten, der der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland ein Ende setzte. Wir Deutsche sind dafür bis heute dankbar«, erklärte der Bundeskanzler und verwies auf die Weizsäcker-Rede 1985.

So verdanken wir in der Tat, wie Walter Dirks sagte, den revolutionären Umbruch zweimal den Siegern. Aber die Weimarer Republik wurde aus freien Stücken von den Deutschen gegründet und, wenn die Bundesrepublik zwar als Auftrag der Westalliierten entstand, so ist sie trotzdem unsere eigene Schöpfung, auch und gerade durch die Lehren aus Weimar, die dabei im Grundgesetz gezogen wurden. Und, daran möchten wir auch erinnern, der erste Schritt zur neuen Demokratie nach 1945 erfolgte in Hessen durch die erste Landesverfassung im Dezember 1946.

70 Jahre und 100 Jahre nach 1848 würdigte man jeweils die Erklärung der Grundrechte der Paulskirche als Vorbild und die Bundesrepublik hat dieses Vorbild ernster genommen als die Weimarer Republik es tat, nämlich durch die von der Paulskirche schon vorgesehene Überwachung dieser Grundrechte durch ein besonderes Gericht. 1919 hielt man die errungenen Grundrechte für selbstverständlich, 1949 wusste man, wie wenig selbstverständlich sie waren. Doch die Paulskirche hat damals ergänzend zu diesen Grundrechten keine „demokratische Verfassung“ ausgearbeitet, wie man heute verschiedentlich lesen kann, auch nachdem die Zukunft des Bauwerks Paulskirche wieder zu einer grundsätzlichen Diskussion anregt.

Erinnern wir also an das Gute in der Vergangenheit, aber ohne unhistorische Idealisierung, erinnern wir ohne Pendelschlag vom einen ins andere Extrem, an Licht und Schatten in der deutschen Geschichte gleichermaßen und angemessen.

Und dies bedeutet – zurück zum Grund der heutigen Veranstaltung –, dass die Quelle des Lichts unserer heutigen Demokratie nicht weiter erinnerungskulturell so unter den Scheffel gestellt werden darf, wie es bislang der Fall war. Am 23. Mai 1949 trat das Grundgesetz in Kraft. Feiern wir doch auch offiziell den 23. Mai als Geburtstag unseres heutigen Staates mit dieser Demokratie!

(1) Einen Bericht über die Veranstaltung „Ein Abend der Verfassungen“ in Königstein am 23.5.2023 gibt es hier: https://www.eugen-kogon-gesellschaft.de/wp-content/uploads/2024/09/Abend_der_Verfassungen_23.5.22.pdf

(2) Walter Dirks: „Die Zweite Republik. Zum Ziel und zum Weg der deutschen Demokratie“, in: Frankfurter Hefte N°1, 1946, S. 16.

(3) Zit. in: Michael F. Feldkamp: Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Die Entstehung des Grundgesetzes. Göttingen (V&R) 22019, S. 190.