Eugen Kogon, ein geistiger Mitbegründer der Nachkriegsdemokratie

Sehr verehrte Anwesende,
liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter der neu gegründeten Gesellschaft, die wir heute vorstellen! (1)

Eugen Kogon ist ein heute fast schon vergessener Mitbegründer der deutschen Nachkriegsdemokratie. Ich sage bewusst nicht: der Bundesrepublik, denn sein Engagement war weitaus tiefgründiger angelegt als die dann folgende politische und rechtliche Gründung der Bundesrepublik, die er als Wiederherstelllung, nicht als Erneuerung der Demokratie betrachtete, und als gesellschaftliche Restauration, wo Weiterentwicklung nötig gewesen wäre. Es war die Wiederherstellung einer institutionellen Demokratie mit den in Vielem unbewältigten Lasten der Vergangenheit. Deswegen auch: Kogon als ein geistiger Mitbegründer der Nachkriegsdemokratie, denn sein Engagement hatte stets die innere Demokratie im Blick – man mag das eine moralische Haltung nennen, ein unmodern gewordenes Wort – mit dem Nationalsozialismus als Bezugspunkt für eine Bewährung zum Besseren nicht nur äußerlich, unter dem Auge der Alliierten, sondern vor allem innerlich, im eigenen Gewissen. Doch in der Besatzungszeit folgte nach dem Neuanfang in den Ländern der staatliche Einigungsprozess der Westzonen doch recht schnell einem anderen politischen Zwang und Zweck, als Resultat des entstehenden Kalten Krieges, dessen Frontlinie mitten durch Deutschland ging.

Die institutionelle demokratische Restauration wurde mit vielen „33-45ern“, wie Kogon sich 1952 ausdrückte, vollzogen. Die „33-45er“ – einer jener genialen Begriffe, für die ich Kogon besonders liebe –, darin waren alle versammelt: Die Schuldigen, ja sogar NS-Täter, die Mitglieder der Partei und Mitläufer des Systems, die Opportunisten und die inneren Emigranten, diejenigen, die meinten, es sei eh nichts mehr zu verhindern gewesen, und die Indifferenten. Das deutsche Volk, schrieb er in einem weiter ausholenden historischen Rückblick im letzten Kapitel des SS-Staats, „konnte rechtlich gesinnt sein und sich doch, als Volk, jeder autoritätsverkleideten Gewalt unterwerfen, so daß es den Terror schon fürchtete, ehe er überhaupt in Aktion trat.“[ii] Einen Satz, den ich nach der Veranstaltung am 8. Mai hier gerne noch einmal zitieren möchte, weil er, wie etliche andere auch, die phänomenale Fähigkeit Kogons zeigt, in kürzester Form eine ganze Welterkenntnis zum Ausdruck zu bringen.

Zehn Jahre vor der spektakulären, aber leider auch weithin folgenlosen Rede Bundespräsident von Weizsäckers zum 40. Jahrestag des Kriegsendes im Bundestag, schrieb Kogon im Mai 1975 zum 30jährigen, mit einer leicht anderen Akzentsetzung als Weizsäcker später, von der „Befreiung durch Niederlage“. Und im Unterschied zu Weizsäcker präzisierte er die Befreiung: „Nur eine Minderheit durfte sich als wirklich befreit empfinden, welche siegreiche Armee immer, von der einen oder von der anderen Seite, die Aufgabe nun der Besatzung übernahm, – die Minderheit der Gegner des Regimes, die es aktiv gewesen waren, und die Opfer, soweit auch sie den Terror überstanden hatten, aus politischen, religiösen oder rassischen Gründen Verfolgtgewesene [sic].“[iii] (Hervorhebung von mir)

Kogon, der von Anfang an, schon 1946 im SS-Staat, die Kollektivschuldthese und die „Schock-Politik“ der Amerikaner und die damit verbundene und zum Scheitern verurteilte bürokratische Kollektiventnazifizierung kritisierte und deswegen auch Beifall von der falschen Seite bekam, vertrat keineswegs die kehrseitige These von der kollektiven Unschuld, der Verführung der Massen durch den Führer, wie es die Nazis selbst als Ausdruck der „Gefolgschaft“ des Volkes darstellten („Führer befiel, wir folgen dir!“) und wie Viele, zu Viele, die gefolgt waren, später zu ihrer Entschuldigung vorbrachten, verführt worden zu sein – nein, Kogon vertrat durchaus eine Kollektivanschuldigung an alle für eine Gewissensprüfung, wo sie gestanden und was sie gemacht oder unterlassen hatten, und er vertrat natürlich die Bestrafung all derjenigen, die durch ihre Taten manifeste Schuld auf sich geladen hatten.

Doch aufgrund der Zeitumstände schwang das Pendel vom einen ins andere Extrem, auf den Vorwurf der Kollektivschuld am Vergangenen folgte der Freispruch angesichts der Herausforderung der Gegenwart, mit zahlreichen vorzeitigen Entlassungen aus dem Gefängnis, und die allermeisten erlangten ihre Absolution letztlich auch ohne vorherige Beichte. Und auf die Amnestie folgte dann auch erst mal die Amnesie.

Diese institutionelle Demokratie als fester Rahmen für eine Gesellschaft, die zu 50% bis 1949 der Meinung war, der Nationalsozialismus sei „eine gute Idee“ gewesen, „doch nur schlecht ausgeführt“[iv], soll deswegen nicht kleingeredet werden. Der Slogan „Demokratie ohne Demokraten“, immer der Weimarer Republik angeheftet, würde, so absurd es erscheinen mag, vielleicht eher für die Zeit nach dem Zweiten als nach dem Ersten Weltkrieg gelten. Doch dieser demokratische Rahmen hielt das Unwägbare im Zaum. Die berühmten Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten die Fehler der Vorkriegsdemokratie fest im Blick, allerdings nur die Schwächen der Verfassung, nicht die Schwächen der Politiker, aus deren Reihen sie ja zum Teil direkt kamen. Das Grundgesetz, dessen 75jähriges Jubiläum wir nächstes Jahr feiern – oder feiern sollten, bislang hat die Bundesrepublik ihren Ursprüngen ja recht wenig gedacht – hat eine stabile Demokratie geschaffen, die durchaus als Erneuerung gewürdigt werden darf. „Bonn ist nicht Weimar“ formulierte es genial schon 1956 der Schweizer Journalist Fritz René Allemann.

Doch haben wir heute allen Anlass, nachdenklich zu werden, und müssen es auch, ob diese Stabilität Bestand haben wird, auch institutionell gesehen. Demokratien werden heute nicht mehr gestürzt, sondern von innen ausgehöhlt. Zuallererst ist der demokratische Geist in Gefahr, das brauche ich hier nicht weiter auszuführen, möchte aber damit zu Kogon zurück, denn genau das war sein Anliegen: „Demokratie“, schrieb er 1952 in Wiederholung früherer Äußerungen, „ist niemals ein Zustand, sondern immer eine so gewaltige und so schwere Aufgabe.“[v]

Zehn Jahre später wurde Kogon vom hessischen Landtagspräsidenten zu einer Festrede anlässlich der Eröffnung des neuen Plenarsaals am 18.9.1962 eingeladen. Wer dachte schon ein Jahr nach dem Mauerbau, einen Monat vor der Kubakrise (bzw. einen Monat danach bei der Veröffentlichung des Textes) und zwei Jahre vor der Gründung der NPD an die innere Verfasstheit der Demokratie? Kogon tat es und warnte vor der vermeintlichen Selbstverständlichkeit der Demokratie. Er verwies darauf, wie am Ende des Ersten Weltkriegs alle monarchischen Dynastien stürzten: Die Russische, die Preußische, die Habsburgische, und Demokratien daraus hervorgingen, abgesehen vom Sonderfall Russland, und andere Monarchien sich liberalisierten. Wenige Jahre danach begann die Kehrtwende: zuerst in Italien 1921, dann in einem mittel- und osteuropäischen Land nach dem anderen, und mit dem Abschluss des spanischen Bürgerkriegs waren die wenigen verbliebenen west- und nordeuropäischen Demokratien ein geographisch randständiger weißer Fleck auf der europäischen Landkarte.

„Infolgedessen ist es wohl angebracht“ sagte er, „von Zeit zu Zeit einmal, und zwar inmitten der Normalität, die wenigstens als solche erscheint, sich zu fragen, ob es jedesmal nur die Ausnahmezustände sind, die das parlamentarische Regime ins Wanken, womöglich zu Fall bringen, oder ob wir es nicht vielmehr unterlassen […], es den tieferen Bedürfnissen der Gesellschaft anzupassen.“[vi]

Eine Erkenntnis, über die man lange grübeln kann. Ist das nicht cum grano salis wie auf die heutige Situation gemünzt? Kogon fragt auch hier nicht nur nach der Schuld, die die Antidemokraten auf sich geladen haben, er fragt auch danach, wie es dazu kommen konnte, d.h. welche Fehler die Demokraten dabei gemacht haben. Dass am Ende Mehrheiten sich von der Demokratie abwenden, kann nicht nur in der Verführungskunst der Verführer liegen, es wäre ja eine Bankrotterklärung der Demokratie und ein Triumph der Demagogen.

Die Lehren aus der Vergangenheit sind in vielfacher Hinsicht kein Schnee von gestern. Die Verdrängung in den ersten Nachkriegsjahrzehnten führte zu einem überschwänglichen Nachholbedarf, noch einmal gesteigert seit der Wiedervereinigung, um die Wiederkehr der Gespenster des Nationalen zu bannen. Vielfach ist dies aber zu ritualisiert, veräußerlicht, nicht verinnerlicht; Ritual ist nicht Besinnung. Das erinnerungskulturelle Mea culpa kennt von Seiten der Bundesregierung in ihrer Liste offizieller Gedenktage, auch darauf habe ich hier schon mal hingewiesen, mit Ausnahme des 3. Oktober nur negative Gedenktage, noch nicht einmal ein adäquates Gedenken an die Gründung der Bundesrepublik, bislang jedenfalls. Dies hat auch einen kontraproduktiven Effekt, wie Kogon ihn in seiner Kritik an der damaligen Kollektivschuldthese ausführte, und leistet ungewollt der Propaganda vom „Schuldkult“ Vorschub. Der erinnerungskulturelle Kampf um die Vergangenheit ist keineswegs vorbei, vielleicht fängt er erst an und es ist natürlich auch ein politischer Kampf um die Zukunft der Demokratie.

Ich hoffe sehr, dass erinnerungskulturell das Positive der Demokratiegeschichte, so schwierig sie auch war, stärker an die Seite des Negativen tritt, wo nur die Niederlagen der Demokratie bedauert und betrauert werden, nicht die Erfolge gewürdigt, seien einige auch nur vorübergehend gewesen. Allerdings dann bitte nicht in der Weise, wie jetzt die Paulskirche idealisiert wird, sie habe eine „demokratische Verfassung“ hervorgebracht, die nur gescheitert sei. Der Grundrechtekatalog der Paulskirche war Vorbild für nachfolgende demokratische Verfassungen, 1919 und 1949, die Verfassung von 1849 selbst stand dem diametral entgegen. Auch dies hat Kogon in unnachahmlicher Kürze und Präzision auf den Punkt gebracht: Die Paulskirche „hat den liberalen Rechtsstaat und den nationalmonarchischen Machtstaat zugleich proklamiert.“[vii] Besser kann man das gar nicht in einem Satz zusammenfassen!

Die Eugen-Kogon-Gesellschaft, die sich in kleinem Kreis gegründet hat mit Bezug zum damals gewählten Wohnort der Familie Kogon in Königstein(-Falkenstein), Mittelpunkt eines Netzes bedeutender Ereignisse und Persönlichkeiten der Nachkriegsgeschichte, möchte Eugen Kogons Denken und Beitrag zur geistigen Erneuerung der Demokratie in der Bundesrepublik in Erinnerung rufen, im weiteren Kontext der damaligen Zeit würdigen und an dessen Bedeutung auch für die Aktualität mahnen. Es soll nicht nur einem kleinen interessierten Fachpublikum, das wir gleichwohl begrüßen, vorbehalten bleiben, sondern möglichst breit in die Öffentlichkeit gebracht werden. Eine große Aufgabe doch auch hier ist der Weg das Ziel. Welche Schritte wir auf diesem Weg unternehmen können, werden wir in der nächsten Zeit zu besprechen haben.

Wolfgang Geiger
Vorsitzender

[1] Rede zur Vorstellung der neu gegründeten Eugen-Kogon-Gesellschaft am 10.11.1223 in Königstein.
[2] Eugen Kogon: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager. München: Alber, 1946, 1946, S. 334.
[3] Eugen Kogon: Befreit durch Niederlage. Dreißig Jahre deutscher Wiederaufstieg, in: Frankfurter Hefte 5/1975, hier zit. nach: Kogon – politischer Publizist…, S. 328.
[4] Cf. Anna J. Merritt / Richard L. Merritt: Public Opinion in Occupied Germany. The OMGUS Surveys, 1945-1949. Urbana / Chicago / London (Univ. of Illinois Press) 1970, S. 33.
[5] Eugen Kogon: Die Aussichten der Restauration. Über die gesellschaftlichen Grundlagen der Zeit, in: Frankfurter Hefte 3/1952, hier zit. Nach: Eugen Kogon – ein politischer Publizist in Hessen. Essays, Aufsätze und Reden zwischen 1946 und 1982, herausgeg. von Hubert Habicht. Frankfurt/M.: Insel, 1982, S. 239.
[6] Eugen Kogon: Der Parlamentarismus unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen. Festansprache zur Eröffnung des neuen Parlaments-Plenarsaals 1962, in: Frankfurter Hefte 11/1962, hier zit. nach Kogon – politischer Publizist…, S. S. 84.
[7] Eugen Kogon: Rückblick auf 1848, in: Festschrift für Gustav Heinemann, 1973, hier zit. nach: Kogon – politischer Publizist…, S. 401.