Robert Kempner, Eugen Kogon und die Demokratie „im Reagenzglas“ nach 1945
von Wolfgang Geiger
Text als pdf erhältlich: DownloadKempner-Kogon
West-Deutschland, unsere sorgsam gepflegte Reagenzglas-Demokratie…
Robert Kempner, 1950
Kein System der Freiheit kann allerdings bestehen ohne einen entwickelten,
immer wachen Freiheitswillen seiner Bürger.
Eugen Kogon, 1949
Wir kennen aus TV-Krimis die tote Hand, die aus der Müllhalde ragt.
Von meinem Vater ragt – ach, gewiss, ein makabres Bild –
noch der mahnende Zeigefinger aus dem Müll der Geschichte heraus.
Michael Kogon, 2001
Im Folgenden sollen zwei herausragende Persönlichkeiten vor allem, aber nicht nur, der Nachkriegszeit zusammengebracht werden, die mehr gemeinsam haben, als man auf den ersten Blick vielleicht vermutet, im Hinblick auf die Neubegründung der Demokratie in (West-) Deutschland. Zunächst springen tatsächlich eher die Unterschiede ins Auge: Robert Kempner (1899-1993) warnte schon in der Weimarer Republik als Justiziar in der Polizei-Abteilung im Preußischen Innenministerium vor den Nationalsozialisten, wurde 1933 aus dem Staatsdienst entfernt und musste dann ins amerikanische Exil gehen. Eugen Kogon (1903-1987) war auch ein Gegner des Nationalsozialismus, allerdings damals aus anderen Gründen, weil noch kein Demokrat.
In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre schloss sich Eugen Kogon der katholisch-rechtskonservativen Idee eines vormodernen „Ständestaates“ an, promovierte darüber 1927 in Wien, wurde Redakteur der rechtskatholischen Zeitschrift Schönere Welt und befürwortete den „Austrofaschismus“ der Dollfuss-Diktatur ab 1934. Gleichzeitig wurde er jedoch zum Gegner des Nationalsozialismus in Deutschland, half deutschen Verfolgten und wurde nach dem „Anschluss“ Österreichs auch sofort verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Aus dieser Erfahrung heraus wollte er nach der Befreiung zur „Aufarbeitung“ (es fehlt der passende Begriff) des Nationalsozialismus beitragen und engagierte sich damit verbunden für die Neubegründung der Demokratie, die er zuvor als „Parteiendemokratie“ abgelehnt oder zumindest abfällig betrachtet hatte – wie so viele Intellektuelle der Weimarer Republik (1). Auf diese politische „Jugendsünde“, wie Kogon dies später verschämt gegenüber seinem Sohn ausdrückte (2), wird auch heute noch als „rechte Vergangenheit eines linken Intellektuellen“ hingewiesen (3).
Die Analyse des SS-Staates in seinem gleichnamigen Buch, das, schon im Dezember 1945 fertiggestellt, 1946 erschien, erfolgte noch aus dem Impuls heraus, den die amerikanische Besatzungsbehörde mit dem Auftrag zur Dokumentation des KZ (oder KL, wie Kogon nach der offiziellen NS-Abkürzung immer schrieb) Buchenwald setzte. Diese Dokumentation von Kogon und anderen Buchenwald-Häftlingen wurde als solche erst Jahrzehnte später als Buchenwald-Report publiziert, aber mit Zustimmung der Besatzungsbehörde machte er den Text jedoch zur Grundlage seiner eigenen, umfassenderen Analyse zum „System der deutschen Konzentrationslager“ im SS-Staat.(4).
In der von den Amerikanern geprägten Politik der Entnazifizierung und „Umerziehung“ (Reeducation) der Deutschen agierten beide, Kempner wie Kogon, prinzipiell in die gleiche Richtung, wenn auch auf unterschiedlichen Ebenen und auch wenn Kogon dann die amerikanische Schocktherapie der politischen Kollektivanklage heftig kritisierte.
Robert Kempner kam 1945 nach Deutschland zurück als Teil der amerikanischen Delegation zur juristischen Ahndung der NS-Verbrechen im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess als einer der Stellvertreter des amerikanischen Chefanklägers Robert Jackson, hierarchisch hinter Telford Taylor rangierend. Aber Kempner leitete über weite Strecken die „Kärrnerarbeit“ der Anklage, nämlich die Dokumentation, deren Auswertung und Aufbereitung für den Prozess. So bekam Telford Taylor im Verfahrensteil zur Einstufung der Wehrmacht von Kempner das wichtigste Dokument für die Zeugenvernehmung von Generalfeldmarschall von Manstein, das später in einem Nachfolgeprozess zur Anklage gegen Manstein diente, nämlich dessen Befehl vom 20.11.1941 zur Anwendung des „Reichenau-Befehls“ für die Integration der Wehrmacht in die Judenvernichtungsaktion (5). Nach dem Hauptprozess sollte Kempner mehrere Nachfolgeprozesse gegen verantwortliche Beamte vorbereiten, von denen allerdings nur der „Wilhelmstraßenprozess“ zustande kam. Sein Team entdeckte eines der wichtigsten Dokumente in dem unüberschaubaren Berg von Unterlagen, allerdings erst 1947 und deswegen zu spät für den Hauptprozess, nämlich das Wannsee-Protokoll, das nur noch in einer einzigen Ausfertigung greifbar war. Es spielte eine entscheidende Rolle im Prozess gegen Angeklagte des Auswärtigen Amtes („Wilhelmstraßenprozess“), allen voran den vormaligen Staatssekretär Ernst von Weizsäcker. Kempner trat dort als Ankläger stärker in die Öffentlichkeit und es ist wohl der einzige, weil umstrittenste, der Nachfolgeprozesse, der heute noch einigermaßen im öffentlichen Bewusstsein ist. Die Dechriffrierung des Wannsee-Protokolls – welche Paraphen (Unterschriftszeichen) gehörten zu wem und bezeugten dessen Lektüre und Zustimmung? – sowie die Entschlüsselung der sprachlichen Formulierungen und letztlich die Bedeutung des ganzen bekam Kempner durch einen Mitarbeiter im Auswärtigen Amt, der zwar in Untersuchungshaft saß, gegen den aber keine Anklage erhoben wurde und den Kempner jedoch als Zeugen bei der Vernehmung mit dem Hinweis „Sie wissen, daß die Russen sich auch für Sie interessieren“ (6) unter Druck gesetzt hatte. Da dies bekannt wurde (zweifellos durch dessen Anwalt), wurden Kempner unter anderem vom ersten Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche, Bischof Wurm, äußerst öffentlichkeitswirksam Foltermethoden vorgeworfen. Wir kommen weiter unten darauf zurück.
Letztlich traten beide zunächst als Ankläger gegenüber dem deutschen Volk auf, Kempner als juristischer, Kogon als politisch-moralischer Ankläger, beide mit denselben Absichten: durch eine „Abarbeitung“ – um mal das nur scheinbar gegenteilige Wort zum obigen zu verwenden – an der jüngsten Vergangenheit die Grundlagen für eine Zukunft in einer neuen Demokratie zu legen. Es war ein Experiment „im Reagenzglas“, wie Kempner sich ausdrückte (7). Ohne aufrichtigen Blick zurück kein ehrlicher Blick nach vorn, das war ihr gemeinsamer Nenner und auch ihr gemeinsames Problem in jener Nachkriegszeit, in der nur allzu schnell die von Kogon kritisierte Generalanklage der Deutschen und dann der neue Ost-West-Konflikt die Verdrängungsmechanismen und Schlussstrichmentalität beförderten.
Schon 1930 in der damals anonymen und regierungsinternen „Preußischen Denkschrift“ Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei als staats- und republikfeindliche, hochverräterische Verbindung, an der Robert Kempner beteiligt war, schrieben die Verfasser in Ahnung der kommenden Nazifizierung Deutschlands eine deutliche Mahnung an Justiz und Politik. Folgendes daraus liest sich auch wie ein nichtsahnendes Memento für die spätere Entnazifizierung der Deutschen:
„Bereits in seiner Schrift Mein Kampf äußert sich Adolf Hitler ganz klar dahin, daß die Partei nur Mitglieder kenne, die aktiv für die Ziele der Bewegung eintreten, daß es eine passive Mitgliedschaft nicht gebe, daß somit der Eintritt in die Partei gleichbedeutend sei mit der Verpflichtung zu ständiger aktiver Tätigkeit für die Parteiziele. Er schreibt dort: ‚Anhänger einer Bewegung ist, wer sich mit ihren Zielen einverstanden erklärt, Mitglied ist, wer für sie kämpft.‘“(8).
Welchen Grad an Schuld beinhaltete also die Parteimitgliedschaft, welchen die Anhängerschaft? Waren am Ende nicht die Deutschen in ihrer großen Mehrheit „Anhänger“ in diesem Sinne?
Welche Schuld? Welche Sühne?
Die Denazfizierung war eines der „vier Ds“ des Potsdamer Abkommens. Vorreiter und in manchem dann auch Vorbild in den westlichen Besatzungszonen waren die Amerikaner. Entnazifizierung im Sinne des Potsdamer Abkommens beinhaltete die Bestrafung von Verantwortlichen für Kriegsverbrechen, die Ausschaltung von Strukturen des NS-Staates und damit verbunden die (vorläufige) Internierung von Funktionären dieses Systems. Wie die Verantwortung der mittleren und niederen Funktionsträger zu beurteilen und zu verurteilen sei, war am Anfang keineswegs klar und blieb es letztlich. Hinzu kam die „geistige“ Entnazifizierung der Bevölkerung, die am stärksten, aber vollkommen unterschiedlich, in der Sowjetischen und der Amerikanischen Besatzungszone vollzogen wurde. An letztere schlossen sich dann die Briten spätestens durch die Bizone an, während die Franzosen ihren eigenen Weg gingen. Die Amerikaner ließen in ihrem besetzten Gebiet, zu dem noch vor dem Rückzug auf die vorher festgelegten Besatzungszonen auch Thüringen mit Weimar/Buchenwald gehörte, die örtliche Bevölkerung zu den KZs marschieren um die aufgestapelten Leichen zu sehen, stellten in den Städten großflächige Plakate mit entsprechenden Fotos auf und Kommentaren „Das ist eure Schuld!“ (oder ähnlichem) und propagierten damit in der Anfangsphase der Besatzungszeit eine kollektive Anklage.
Daraus entstand das Projekt, alle Deutschen auf ihre Vergangenheit zu überprüfen, und dafür sollte der berühmt-berüchtigte Fragebogen dienen. Gewiss wurde in keinem offiziellen Dokument der Alliierten die Kollektivschuld wortwörtlich formuliert, wird zu Recht eingewandt, und erscheint daher eher bei den Beschuldigten als unbewusstes Eingeständnis dessen, was man von sich weisen wollte (9). Unbestreitbar liegt jedoch den Plänen von der „Umerziehung“ die Überzeugung von der Mitschuld der großen Mehrheit des Volkes zugrunde. Diese Überzeugung wurde schon durch die ersten Umfragen des US-Militärs in den befreiten Teilen Westdeutschlands bekräftigt, die die ersten Zeugnisse einer Kollektiventschuldigung seitens der befragten Deutschen sammeln konnten. Sehr erhellend sind hier die Erkenntnisse des Soziologen und US-Offiziers Daniel Lerner (kein Emigrant), mit dem sich Eugen Kogon auch für sein Buch beraten hat, und der für die Abteilung „Psychologische Kriegsführung“ die Strategien der Selbstentlastung und Verdrängung folgendermaßen auf den Punkt brachte: „Der jetzt in Mode gekommene Ausdruck ‚belogen und betrogen‘ ist nur eine fromme Lüge, durch die der Deutsche, der ihn gebraucht, unbedacht zugibt, daß er irgendwann einmal an die Nazis geglaubt hat und ihnen gefolgt ist. Sonst könnte er jetzt nicht behaupten, ‚belogen und betrogen‘ worden zu sein.“(10). Lerner hatte schon eine Klassifizierung der Deutschen nach ihrer politischen Haltung im Gepäck, die von einem britischen Kollegen 1944 aufgrund von Verhören von Kriegsgefangenen und anderen Informationen erstellt wurde. Danach gab es 10% fanatische Nazis, 15% gemäßigtere Nazis „mit Vorbehalten“, 40% „Unpolitische“, 15% passive und 10% aktive Anti-Nazis (11). Wie wenig verlässlich das auch sein konnte, eines kommt dabei klar heraus: Das Problem waren die „Unpolitischen“, die man später als „Mitläufer“ bezeichnen sollte, um ihnen zumindest ein Minimum an Mitschuld zuzuweisen, da es eine neutrale Position nicht geben konnte.
Die Kollektivschuld – was immer nur meint: die Mitschuld der großen Mehrheit – war aber keineswegs nur die Überzeugung der Amerikaner, sie wurde auch von namhaften exilierten, verfolgten und inhaftierten Deutschen aufgestellt, denen es schwerfiel, angesichts des Erlebten zu differenzieren. „Weil die Deutschen sich die Kontrolle über ihre Regierung haben entziehen lassen, deswegen kontrollieren uns heute andere. Diese politische Einsicht ist die Voraussetzung der geistigen und moralischen Umkehr“, bilanzierte Kurt Schumacher in seiner ersten politischen Rede am 6.5.1945 im befreiten Hannover, zwei Tage vor der Kapitulation, denn „die Mitschuld großer Volksteile an der Blutherrschaft der Nazis liegt in ihrem Diktatur- und Gewaltglauben.“(12). Dies war keine Anklage auf direkte Mitschuld an den Verbrechen, sondern hinsichtlich der Aufgabe der Demokratie, die dies erst möglich machte. Andere, wie die Schriftsteller Thomas Mann oder Franz Werfel, aber auch, etwas differenzierter, Hannah Arendt, gingen dabei weiter.
Die Kollektivschuldanklage erschien in der Öffentlichkeit zunächst durch die erwähnte Plakatkampagne (13), sie war aber auch schon vor der Offenbarung der Massenmorde durch die „befreiten“ KZs (in Wirklichkeit die Befreiung der dort Überlebenden) etabliert worden, nämlich im erwähnten politischen Sinne, als eine scheinbar in den Deutschen verankerte Unfähigkeit zur Demokratie. So war die Kollektivschuldthese in Frankreich historisch und gesellschaftlich durch die deutsch-französische „Erbfeindschaft“ viel stärker verwurzelt. Und in Analysen des Nationalsozialismus schon vor dem Krieg bediente man sich dabei ebenso der „Völkerpsychologie“, wie es damals in Deutschland in der Charakterisierung anderer Völker üblich war, nur politisch umgekehrt. Der Krieg und seine Verbrechen schienen dies nur zu bekräftigen. „Vor der deutschen Kapitulation“, heißt es in einem Artikel vom 1.8.1946 in der bedeutenden Zeitung Le Monde, „war die öffentliche Meinung der Welt gespalten über viele Punkte hinsichtlich der allgemeinen Politik, die man gegenüber dem besiegten Deutschland verfolgen sollte. Nichtsdestotrotz gab es in einer Frage keine Meinungsverschiedenheiten. Alle waren sich einig in der Forderung, dass das deutsche Volk einer geistigen Umerziehungen unterworfen werden müsse. Das war – so hieß es – die conditio sine qua non der Reintegration des deutschen Volkes in die internationale Gemeinschaft.“(14). Der Artikel nennt sich bezeichnenderweise Versuch zur Erklärung der deutschen Seele, ganz im Stil der erwähnten Völkerpsychologie, hier aber auch ganz deplatziert, denn die „deutsche Seele“ sollte ja nicht mehr erklärt, sondern umerzogen werden. Man beklagte darin auch, dass bis zu jenem Zeitpunkt noch nichts in dieser Richtung unternommen wurde.
Die verschiedenen Aspekte der Entnazifizierung dürfen nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Im Vordergrund stand zunächst die juristische Ahndung der Straftaten durch den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess, dann durch die weit weniger beachteten Nachfolgeprozesse (ursprünglich viel umfänglicher geplant, als sie dann durchgeführt wurden) und weitere Prozesse in der Verantwortung der einzelnen Besatzungsbehörden. Außerdem gab es, heute fast unbekannt, parallel dazu verlaufende Prozesse in den Staaten, die unter der deutschen Besatzung gelitten hatten, darunter die Sowjetunion selbst. Als einzelner bekannter Prozess ragt daraus der in Polen gegen den Kommandanten des KZ Auschwitz, Rudolf Höß, heraus. Und dann entstanden noch durch die Ausweitung der Fragebogenaktion in Deutschland die deutschen „Spruchkammern“, denen durch das „Befreiungsgesetz“ vom 5.3.1946 (zuerst in der US-Zone) die Verfahren für die Entnazifizierung in der Breite übergeben wurde.
Das Ganze war in allen Aspekten vollkommen neu und vor allem in seiner Dimension alle Maßstäbe sprengend, wessen man sich heute kaum noch bewusst ist, wenn man im Rückblick die Unzulänglichkeiten der Entnazifizierung kritisiert. Am 20.10.1943 war von den Vereinten Nationen, die sich noch in ihrer Embryonalphase befanden, die War Crimes Commission gegründet worden, der Robert Kempner im Stab des amerikanischen Vertreters John Winant (US-Botschafter in London) angehörte. Sie sollte die Grundlagen für eine Ahndung der Kriegsverbrechen legen, deren Verfahren zu diesem Zeitpunkt noch ganz unklar war, und stellte eine umfangreiche Liste von bekannten NS-Verantwortlichen und Militärs auf, denen Verbrechen zur Last gelegt werden konnten. Auf solch eine Liste setzte ganz offensichtlich Stalin, als er am zweiten Tag der Alliierten Konferenz von Teheran (29.11.1943) seine Ansicht äußerte (nach den Aufzeichnungen Roosevelts), dass das Problem dadurch zu lösen sei, dass „mindestens 50 000 und vielleicht 100 000 aus der deutschen Führung* physisch liquidiert werden müssen.“ (*German Commanding Staff in der englischen Übersetzung). Churchill widersprach der „kaltblütigen Exekution von Soldaten, die für ihr Land kämpften“, aber „Verbrecher […] müssen sich an den Orten vor Gericht verantworten, an denen sie ihre Verbrechen begangen haben.“(15). Ob Stalins zwischen seinen berüchtigten Trinksprüchen beim Dinner geäußerte Ansicht wirklich ernst gemeint, eine spontane Idee oder nur ein kommunikativer „Testballon“ war, ist kaum festzustellen. Im Februar 1945 vertrat Stalin auf der Konferenz von Jalta jedenfalls die gegenteilige Position, weil öffentliche Prozesse einen hervorragenden Propagandawert hätten, während sich Churchill gegen die Etablierung eines Internationalen Militärgerichts aussprach und stattdessen wollte, dass „ausgewählte Nazi-Führer summarisch exekutiert und andere ohne Verfahren inhaftiert werden.“ Die Anklage auf Angriffskrieg würde einen gefährlichen Präzedenzfall setzen und außerdem befürchteten die Briten einen Schauprozess nach Moskauer Vorbild. Diese Details von den Alliierten Konferenzen jedoch kamen genau und wörtlich erst 2012 durch freigegebene Akten des britischen Nationalarchivs ans Tageslicht (16). Noch als die Vorbereitungen zum Nürnberger Prozess schon in vollem Gange waren, opponierte, einem hochrangigen Geheimdienstler zufolge, der Chef der britischen Staatsanwaltschaft (Director of Public Prosecution) dagegen: „Der DPP empfahl, dass ein Untersuchungsausschuss zur Schlussfolgerung kommen solle, dass einige Leute abgemurkst werden und andere unterschiedliche Gefängnisstrafen bekommen sollten und dies dem Unterhaus vorgebracht werden sollte.“ (Tagebucheintrag Guy Liddell, MI5, 21.6.1945)(17). Robert Kempner berichtete später davon 1983 in pauschaler Weise und zuvor hatte der Historiker Bradley F. Smith bereits Archivmaterial ausgewertet, wonach sich im Frühjahr 1944 bei Churchill und im Außenministerium die Idee einer summarischen Exekution von 50-100 NS-Führern verfestigte. Doch sowohl die britische als auch die amerikanische Führungsebene waren bis zum Schluss jeweils in sich selbst uneins, zum Teil tief zerstritten, über die ins Auge zu fassenden Maßnahmen und ihre Konsequenzen (18).
Durchgesetzt wurde das rechtsstaatliche Verfahren in den Nürnberger Prozessen am Ende entscheidend durch US-Präsident Roosevelt, seine Gesandten in der War Crimes Commission und den inzwischen von Roosevelt ernannten Chefankläger Robert Jackson. „Diese Hinrichtungsidee, die eine Weile im Londoner Foreign Office und bei Churchill starken Anklang fand, ist erst im März/April 1945 durch Justice Jackson und seine Berater überwunden worden“, sagte Kempner in seinen Erinnerungen: „Ich bin gegen derartige Militär-Pelotons, die letzten Endes Gestapo-Methoden sind. Das wäre Wasser auf die Mühlen derer, die da sagen: ‚Ihr seid auch nicht besser als die Gestapo!‘ Ich halte mich da an die Grundsätze des internationalen Rechts ]…], Leute umzubringen ohne jedes Verfahren – das ist in meinen Augen Mord.“ (19). Weder durfte es die summarischen Exekutionen, noch einen Schauprozess geben, beides hätte jegliche Umerziehung zur Demokratie und auch die Erneuerung des Völkerrechts sabotiert. Dieser entscheidende Beitrag der Amerikaner zu einem rechtsstaatlichen Tribunal, das nicht nur gegen die Sowjets durchgesetzt werden musste, wird rückblickend in seinem Stellenwert wohl zu wenig gewürdigt.
Trotzdem musste sich der Nürnberger Prozess der Kritik an der „Siegerjustiz“ stellen. Weniger das Verfahren selbst war Ziel der Kritik, als seine Grundlage, gegen die die Verteidiger vor allem das nulla poena sine lege (keine Strafe ohne Gesetz), auch Ex-Post-Argumentation genannt, vorbrachten, wonach z.B. „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ erst im Nachhinein als Straftatbestand geschaffen worden sei. Völkermord war 1945 als Begriff noch nicht definiert, das geschah erst 1948 in der UN-Konvention dazu, war aber indirekt in crime against humanity in vielen Aspekten schon präsent. Doch nichts in den drei von vornherein festgelegten grundsätzlichen Anklagepunkten „Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“(20) war Strafe ohne vorherige gesetzliche Grundlage, denn nicht nur Mord war ein anerkannter Straftatbestand, ebenso Beihilfe zum Mord usw., sondern auch mehrere von Deutschland unterzeichnete und nicht widerrufene Abkommen zum Kriegsrecht, darunter die Ächtung eines Angriffskrieges, waren Grundlage dieses Verfahrens. Die neu geschaffenen Kategorien bündelten nur verschiedene Einzeltaten zu einem Straftatbestand, der organisiertes Vorgehen voraussetzte und folglich die Frage nach der Verantwortlichkeit viel weiter zog.
Der zweite vorgebrachte Einwand tu quoque – auch du (machst dasselbe) – war dagegen in der Sache berechtigt im Hinblick auf die Sowjetunion und manifestierte sich im Laufe des Prozesses in der Auseinandersetzung um die Massenerschießungen polnischer Offiziere in Katyn, die nachweislich von den Sowjets in dem von ihnen besetzten Teil Polens 1940 begangen wurden und nicht erst durch die Deutschen nach der Eroberung dieses Gebiets 1941, wie die Sowjets in Nürnberg darlegten. Und schon der Hitler-Stalin-Pakt, der Angriffskrieg gegen Finnland und die Eroberung der baltischen Staaten hatten damals zum Ausschluss der Sowjetunion aus dem Völkerbund geführt. Die Sowjetunion hatte sich 1943 der UN War Crimes Commission nicht angeschlossen, begann eigene Prozesse gegen Kriegsgefangene und wurde im Nürnberger Prozess von den drei anderen Alliierten in enge Schranken verwiesen: „Die sowjetischen Vorschläge zur Besetzung der Anklagebank wurden fast alle verworfen, sowjetische Beweisstücke konnten teilweise einer kritischen Überprüfung nicht standhalten, und die Urteile fielen in einigen Fällen für den sowjetischen Geschmack zu milde aus. Sowjetische Parallelprozesse, in denen einige der ursprünglich für Nürnberg vorgeschlagenen Deutschen abgeurteilt wurden, sollten daher nicht nur die besondere Opferrolle der UdSSR und ihr herausragendes Engagement bei der rechtsstaatlichen Verfolgung der Täter, sondern zugleich auch eigene Rechtsstandpunkte publikumswirksam betonen und über diesen Umweg das Nürnberger Verfahren beeinflussen.“(21)
Um die Einwände geltend zu machen, hätten die Richter als Person für befangen erklärt werden müssen, ernsthafterweise hätte man das für die sowjetischen Richter machen können, schon weil die Sowjetunion kein Rechtstaat war. Das galt aber nicht für die Richter aus den anderen Staaten. Gleichwohl belastete die sowjetische Beteiligung eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
In der Bezeichnung „Hauptkriegsverbrecherprozess“ wurde in der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland das „Haupt-“ kaum in dem Sinne wahrgenommen, dass darauf andere Prozesse folgen würden, vielmehr entstand die Auffassung, dass mit den dort Verurteilten im Wesentlichen auch die Schuld gesühnt sei. So sank nach dem Ende des Nürnberger Hauptprozesses auch damals schon das öffentliche Interesse in den Medien (Presse und Rundfunk) deutlich, abgesehen von lokalen Ausnahmen, so dass auch damit der Eindruck bestärkt wurde, dass die „eigentlich Verantwortlichen“ jetzt abgeurteilt seien und alles Weitere und vor allem die Fragebogenaktion von vornherein Unbeteiligte oder Minderverantwortliche traf, für die der Befehlsnotstand galt.
Welche Entnazifizierung?
Eugen Kogons Kritik an der anfangs von den Amerikanern propagierten Kollektivschuldthese, die er bereits im letzten Abschnitt „Das deutsche Volk und die Konzentrationslager“ im SS-Staat zum Ausdruck brachte (und parallel veröffentlicht in der ersten Ausgabe der Frankfurter Hefte im April 1946 unter dem Titel „Gericht und Gewissen“), trug dazu bei, dass sein Buch und sein damit verbundenes Anliegen von vielen falsch, nämlich ganz verengt verstanden wurde. Die Ablehnung der Kollektivschuld verstand man gerne als die Kollektiventschuldigung, die man ohnehin schon auf den Lippen hatte: Die amerikanische „‚Schock‘-Politik hat nicht die Kräfte des deutschen Gewissens geweckt, sondern die Kräfte der Abwehr gegen diese Beschuldigung, für die nationalsozialistischen Schandtaten in Bausch und Bogen mitverantwortlich gemacht zu sein“, schrieb Kogon (22), doch seine Kritik an der amerikanischen Vorgehensweise hat unfreiwillig dazu beigetragen, diesen Kräften der Abwehr argumentative Munition zu liefern, indem man sich aus Kogon das heraussuchte, was einem zur Selbstentlastung diente. Vor allem Kogons Aufsatz über „Das Recht auf politischen Irrtum“ 1947 in den Frankfurter Heften bot sich dafür an, brauchte man doch nur den Titel und konnte den Inhalt übergehen. Das Epizentrum der Schlussstrich- und Generalamnestiekampagne nach Gründung der Bundesrepublik war die FDP in NRW, in der zahlreiche Nazis untergekommen waren, doch auf diesen Aufsatz Kogons „berufen sich 1949 nicht nur die nordrhein-westfälischen Liberalen, sondern auch die anderen Parteien“, bilanziert Gerhard Bommarius. „Ehemalige NSDAP-Mitglieder, Frontkämpfer und Heimatvertriebene sind eine große Zielgruppe.“(23).
Von den Vorwürfen an die Amerikaner wurden somit Kogons eigene Vorwürfe an die Deutschen überschattet und im Filter dieser beabsichtigt reduzierten Wahrnehmung erschien er nicht nur damals wie ein Schlussstrich-Mahner, es klingt auch bis heute noch an. So 2014 in einem ansonsten durchaus interessanten Rückblick auf die Entnazifizierung auf Focus online: „Ab 1947 wuchs der Druck auf die Besatzungsmächte, die Entnazifizierung zu einem schnellen Abschluss zu bringen. Dazu trug auch die Kritik durch ehemalige Nazi-Gegner wie Martin Niemöller oder Eugen Kogon bei.“(24). Kogon wollte aber durchaus eine Entnazifizierung, nur eine andere. „Nach Kogons Logik kam es nicht darauf an, ob einer früher Nazi war, sondern nur darauf, ob er noch jetzt den alten Ideen anhing“, schrieb 2022 Theo Sommer anlässlich der in den Medien neu aufgeworfenen Frage zu Henri Nannens Rolle im Nationalsozialismus (25): „Ex-Parteigenossen sollten Demokraten werden dürfen. Entscheidend war, sie zu domestizieren und zu amalgamieren. Resozialisierung sollte vor Strafe gehen, Versöhnung vor Sühne“, so Sommers Resümee von Eugen Kogon. Doch das war gewissermaßen nur ein Schlussstrich soft, zwar nicht Leugnung oder Verdrängung, sondern ein bewusstes „Schwamm drüber“.
Und dies hatte Kogon überhaupt nicht im Sinn, ganz im Gegenteil, wie Karl-Heinz Janßen vierzig Jahre zuvor in derselben Zeitung in seinem Nachruf auf Kogon schrieb: „Aufklären, informieren wollte Kogon, den in Schuld und Verstrickung verstockten Deutschen schonungslos den Spiegel vorhalten, der nicht irgendwelche Scheusale zeigt, sondern dich und mich, sobald wir nur dem gleichen Geiste verfallen, dem jene verfallen sind, die das System geschaffen haben‘.“(26). In „Das Recht auf den politischen Irrtum“ bilanziert Kogon – und das hätten alle lesen sollen – die Entnazifizierung in einem bemerkenswerten Satz: „Das Ergebnis ist vorerst, jeder Kundige weiß es, weniger Denazifizierung als Renazifizierung.“ Und Kogon spricht auch nicht grundsätzlich gegen eine Art von Kollektivschuld:
„Das deutsche Volk bildete mit dem Nationalsozialismus in der Tat eine Einheit, doch nicht von der Art, die eine Unterscheidung nicht mehr zugelassen hätte. […] Die psychologische Kriegführung der Alliierten hatte sich, da es ihr nicht gelungen war, einen Aufstand Deutschlands gegen Hitler zu entfesseln, die nazistische These, daß Führer und Volk unerschütterlich eins seien, zu eigen gemacht; jetzt, zu Kriegsende, wurde sie buchstäblich ein Opfer der doppelten Propaganda, der nationalsozialistischen und der eigenen: sie behandelte das deutsche Volk als verderbte Einheit.“(27). Im Dezember 1945, als er den SS-Staat abschloss und die Erfahrung der von ihm auch kritisierten Entnazifizierungsstrategie durch den Fragebogen noch vor sich hatte, solches aber aus der ersten Schocktherapie der Kollektivanklage wohl schon vorausahnte, vertrat er im damaligen Vorwort zu seinem Buch noch etwas deutlicher seine eigene Kollektivschuldthese, wonach es „eine tragische Mitschuld des deutschen Volkes am Bestehen der nationalsozialistischen Konzentrationslager gab“(SS-Staat, S. VII), und verwies auf das letzte Kapitel des Buches. „Ein solches Volk konnte hohe Individualitäten von überragendem Kulturrang hervorbringen, sie mußten aber, bei aller Wirkung wieder auf einzelne, doch isoliert bleiben. […] Es konnte rechtlich gesinnt sein und sich doch, als Volk, jeder autoritätsverkleideten Gewalt unterwerfen, so daß es den Terror schon fürchtete, ehe er überhaupt in Aktion trat.“(S. 334).
Doch das deutsche Volk „bekam nichts anderes zu hören als den tausendfachen Schrei: Ihr, ihr allein seid schuld! Ihr Deutsche alle seid schuldig! Da verwirrte sich das Herz des Volkes, in vielen verhärtete es sich. Wegen des argen Geschreis ums sie und wegen der eigenen Blindheit wollten sie vom Insichgehen nichts mehr hören. Die Stimme ihres Gewissens ist nicht wachgeworden. […] Als ob die Verwerfung des Wortes ‚Kollektivschuld‘, das der moraltheologischen Kritik nicht standhält, die Schuld selbst aufheben könnte, die eben die Anteilnahme jedes Einzelnen des nationalen ‚Kollektivs‘ gewesen wäre!“ (Hervorheb. im Orig., S. 325, 328).
Kogon nimmt auch oft das Führer-Verführungsparadigma auf, aber eben nicht entschuldigend: Das Böse verführt uns, aber wir sind schuld, wenn wir uns von ihm verführen lassen. Es ist die exakte Umkehrung der Logik von Führer und Verführte, wie sie viele Nachkriegsdeutschen gerne zu ihrer Entlastung vorbrachten (siehe oben: „belogen und betrogen“).
Kogon war sogar noch pessimistischer gegenüber den Deutschen, folgendes schrieb er auch 1946 im Vorwort zum SS-Staat, das dann 1949 allerdings so nicht mehr auftauchte: „Und morgen schon, ich zweifle nicht, würden Zehntausende von Deutschen, wenn sie nur könnten, ihre Gegner zu Hunderttausenden den alten Martern unterwerfen, während Millionen wieder bereit wären, die Wahrheit zu verleugnen, indem sie die Wirklichkeit einfach nicht kennenlernen oder nicht zur Kenntnis nehmen wollten.“ Doch war dies kein Vorwurf an die Deutschen alleine, auch andere würden auf ihre Weise so agieren, etwa die polnischen oder litauischen oder ukrainischen Antisemiten gegenüber den Juden, wenn sie „nicht die eiserne Rute des Sowjetstaates niederhielte“. Es ging Kogon also nicht um eine spezifische Kollektivschuld, sondern um eine überall mögliche, die sich aber in Deutschland mehr als anderswo ausgeprägt hatte. „Ich für meine Person mißtraue der menschlichen Natur, die, wie die Geschichte und jedes Ehrlichen eigene Erfahrung lehrt, zum Bösen geneigt ist.“ (S. VI).
In all dem zeigt sich auch deutlich die Verbindung zu Kogons christlicher Überzeugung. Diejenigen, die sich nach 1945 als zuvor Verführte, d.h. Getäuschte, von eigener Verantwortung freisprechen wollten, befanden sich damit nicht im Einklang mit der christlichen Moral, die dem Verführten die Schuld zusprach, nicht dem Verführer, dem Bösen, dem Teufel. Im christlichen Weltbild hat die Verführung sogar ihren Platz, weil das Leben des Menschen eine ständige Prüfung, eine ständige Bewährung ist – und sogar damit es so sei –, auf dem rechten Weg zu bleiben.
Kogons grundlegende Gedanken, die ich hier so zusammengefasst habe, befanden sich damit allerdings nicht im Einklang mit dem katholischen Tenor der Nachkriegszeit, weit gefehlt. In der Blüte der neuen Zeitschriften, die sich zwangsläufig alle mit der jüngsten Vergangenheit befassten, hatten die katholischen eine starke Position, wie überhaupt der Süden Deutschlands in den von den Besatzungsmächten neu lizenzierten Zeitschriften weit überrepräsentiert und damit auch über weite Strecken tonangebend war. Darin wurde die deutsche Kollektivschuld relativiert in einer umfassenderen: „Es gibt eine Gesamtschuld der abendländischen Völker- und Kulturgemeinschaft“ hieß es zum Beispiel in der katholischen Zeitschrift Neues Abendland (28). Säkularisierung, Abfall von christlicher Moral und von Gott überhaupt, dies war auch gar keine singuläre Meinung in jenen Kreisen. Auch Kogon schrieb 1946 von einer „unheimlichen Verstrickung in eine kollektive, weit über Deutschland hinausreichende Schuld, die selbst völlig Unwissende in ihren Bereich reißt. Nichts als die Wahrheit kann uns frei machen.“ (Hervorheb. im Orig.)(SS-Staat 1946, S. VI). Für ihn reichte somit die Schuld zwar auch über Deutschland hinaus, dies relativierte sie aber nicht, darin unterschied er sich fundamental von jenen, die die deutsche Schuld umgekehrt in einer allgemeinen Schuld auflösen wollten, ja, Deutschland sogar als das Opfer dieses Prozesses sahen. Der inflationär gebrauchte Begriff der „deutschen Katastrophe“ in den Debatten der Nachkriegszeitschriften meinte nicht die Katastrophe, die Deutschland über Europa gebracht hatte, sondern die Katastrophe, die Deutschland erlitten hatte (29).
Jede Kollektivschulthese produziert unweigerlich ihre spiegelbildliche Widerlegung, denn wenn alle schuld sind, ist es keiner konkret, und so folgt darauf automatisch die Kollektiventschuldigung, ob des Einzelnen innerhalb Deutschlands oder des deutschen Volkes innerhalb des Abendlandes.
Äußere und innere Demokratie
Die schonungslose Konfrontation mit der Vergangenheit und die innere Umkehr waren für Kempner wie für Kogon Bedingung für die demokratische Erneuerung Deutschlands nicht nur im institutionellen Sinne. Die Bilanz war gemischt, übrigens bei beiden, in den Anfangsjahren der Bundesrepublik: äußerlich, d.h. institutionell, gelungen, innerlich zweifelhaft. So sehr es darauf ankam, demokratische Strukturen aufzubauen und dies weitgehend in die Hände der Deutschen selbst zu legen, so sehr kam es auch darauf an, diese auch mit einem demokratischen Geist zu füllen. Die äußere Demokratie bedurfte einer inneren Demokratie und letztere war die weitaus Schwierigere. Daniel Lerner beschrieb in seinen Beobachtungen schon 1945 sehr gut, wie willfährig „die Deutschen“ – es sind immer nur konkrete Beobachtungen – sich der neuen Autorität andienten, ohne alte Verhaltensweisen aufzugeben:
„In dem, was die Deutschen tun, zeigen sich die Überreste des Nationalsozialismus genauso sehr wie in dem, was sie sagen. Die Deutschen, die für die Besatzungsbehörden arbeiten, und vor allem diejenigen, die die weiße Armbinde mit der Aufschrift ‚M.G. Police‘* tragen, legen einen Eifer an den Tag, andere Deutsche herumzustoßen, der beinahe zu weit geht. Und die Deutschen, die herumgestoßen werden, beschweren sich nicht einmal. Anschwärzen und Denunzieren sind bei Gesprächen in Deutschland gang und gäbe. Die Frage, ob er Parteianhänger gewesen sei, wird ein Deutscher immer verneinen. Gleichzeitig wird er aber einen Nachbarn nennen, auf den dies zutrifft.“(30) (*M. G. = Military Government). Auch die französischen Beobachter waren in ihrer Besatzungszone von der Servilität der Deutschen verblüfft, die die Befehle der neuen Autorität mit ebenso großen Eifer ausführten wie zuvor die der NS-Behörden (31).
Von November 1945 bis zum Ende der Besatzungszeit führte das Office of Military Government of the Unites States (OMGUS) Meinungsumfragen unter der deutschen Bevölkerung durch. Auf die Frage „War der Nationalsozialismus eine schlechte Idee oder eine gute Idee, die schlecht umgesetzt wurde?“ antworteten die Befragten relativ konstant über den ganzen Zeitraum zu ca. 40% mit „schlechte Idee“ (sogar sich leicht abschwächend, 42% anfangs, 38% am Ende), und um die 50% mit „gute Idee, schlecht umgesetzt“, bei ca. 10% ohne Antwort. „Gute Idee, schlecht umgesetzt“ konnte natürlich vieles bedeuten: Dass man die Judenvernichtung nicht akzeptierte oder aber den Krieg oder aber dass der Krieg verloren wurde. Dass der NS aber im Prinzip „eine gute Idee“ war und so bis 1949 beurteilt wurde, zeigt die Problematik der fehlenden ernsthaften, innerlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, wie Kogon sie sich vorstellte. Dass die Umfragen in der Amerikanischen Zone die Ansichten der Deutsch einigermaßen richtig erfassten, zeigt sich in der Bestätigung durch eine Umfrage, die die Franzosen 1948 nach dem OMGUS-Modell in ihrer Zone durchführten und wonach sich 44% für „gute Idee, schlecht umgesetzt“ und 38% für „schlechte Idee“ aussprachen (32).
Eine Aufschlüsselung der OMGUS-Umfrage vom Juni 1947 ergab Spitzenwerte für „Gute Idee, schlecht umgesetzt“ bei Befragten mit höherer Schulbildung (9-12 Jahre Schulzeit)(64%), bei unter 30jährigen (68%), bei Protestanten (64%), bei früheren NSDAP-Mitgliedern (67%), bei Einwohnern von Berlin (62%) und Hessen (61%).(33) Interessant und unerwartet daraus sind der erste und der letzte Punkt. Die schon in der Kaiserzeit und der Weimarer Republik im ländlichen mittel- und nordhessischen Raum relativ populäre antisemitische „Böckel-Bewegung“ (Otto Böckel war 1887-1903 Mitglied des Reichstages) ist nicht unbedingt eine hinreichende Erklärung für den letzten Punkt. Entgegen einer auch heute noch verbreiteten Vorstellung, dass die Sympathie für die Nazis mit dem Bildungsgrad nach unten stieg, macht der erste Punkt deutlich, dass der NS stark in den gebildeten Schichten verankert war, wenn auch gewiss auf einer abstrakteren Ebene als bei der SA auf der Straße, so wie auch der Antisemitismus schon 1926 in der Studentenschaft mehrheitsfähig war, als die Weimarer Republik auf ihrem Höhepunkt und die Nazis auf ihrem Tiefpunkt waren, denn zu diesem Zeitpunkt entschied sich die preußische Studentenschaft, vom Kultusminister wegen Statusfragen zu ihrem Selbstverständnis befragt, in einer Urabstimmung mit großer Mehrheit für „Rassenmerkmale“ als Kriterium für die Mitgliedschaft (also für den Ausschluss jüdischer Studierender).(34) In der zweiten Nummer der Frankfurter Hefte hob Kogon hervor, dass die meisten gar nicht zu 100% mit dem NS konform gingen, sondern dass ein jeweils wichtiger Aspekt davon reichte, und das musste gar nicht der Antisemitismus sein: „Der intellektuelle Mittelstand blieb hilflos oder war gebannt in nationale Ideologien“(35), wie auch der Schriftsteller Hans Werner Richter, vermuteter Autor des Leitartikels in der Zeitschrift Der Ruf vom Mai 1947, nach dem Ende der „Hypnose“ eingestand: „Auch wenn wir nicht nationalsozialistisch gedacht haben, nationalistisch haben wir gedacht. Großdeutschland hat uns imponiert. ‚Deutschland, Deutschland, über alles‘ in die Superlative gesteigert, war unser außenpolitisches Bekenntnis.“(36)
In einem weiter gezogenen Horizont fasste Kogon die psychologische Verführbarkeit der Deutschen durch „bestimmte Züge“ in deren „Charakter“ zusammen: Sie „fühlten sich eben durch die Art der NSDAP angesprochen. Betriebsam, Minderwertigkeitsgefühl durch Überhebung kompensierend, romantisch und materialistisch zugleich, politisch ohne fundierte Kritik, autoritätsergeben, disziplinsüchtig, nach oben gerne kuschend, nach unten gerne tretend, und voll Bewunderung für alles, was mit Militär zusammenhing.“(37) Dies geht in die Richtung dessen, was die „Frankfurter Schule“ um Horkheimer und Adorno in verschiedenen Analysen noch in der Weimarer Republik oder im amerikanischen Exil analysiert hatte, und wofür der Begriff „Autoritärer Charakter“(38) geprägt wurde. Nach 1945 hatte Kogon relativ engen Kontakt mit Horkheimer und Adorno und führte mit letzterem auch Radiodebatten durch (39). Noch in der Weimarer Republik hatte Erich Fromm zuvor in seiner umfragebasierten Arbeiter- und Angestelltenstudie 1929-31 (damals nicht mehr veröffentlicht) auch die Autoritätshörigkeit bei Arbeitern analysiert (40). Ob ethnopsychologische Stereotype (das „deutsche Wesen“, hierfür kritisch gewendet), kollektiv-psychologische Charakterstudien oder sozialwissenschaftliche Verhaltensuntersuchungen – alle Ansätze dieser Art können jedoch nicht erklären, warum die autoritätshörigen und scheinbar demokratieunfähigen Deutschen, wie es immer wieder im Hinblick auf die Weimarer Republik heißt, 1918/19 eine Revolution zustande gebracht und dann zu 75% die demokratischen Parteien der „Weimarer Koalition“ für die Nationalversammlung gewählt haben.
Diesem Dilemma war auch Kogon ausgesetzt, nicht zuletzt auch persönlich (siehe oben über seine „Jugendsünden“). In seinen Analysen ging er mit etlichen der damals weit verbreiteten Thesen wie der Schuld Preußens am autoritären deutschen Charakter, am Werteverlust der liberalen Gesellschaft oder dem inhumanen Zweckrationalismus des Kapitalismus konform, worin auch die spezifische Verbindung des Christlich-Sozialistischen zum Ausdruck kam, die ihn und Walter Dirks und die Frankfurter Hefte prägte. Trotzdem lag Kogons Schwerpunkt weniger in der Frage, wie der NS zustande gekommen war, als darin, wie er die Gesellschaft dann prägte und was von ihm geblieben war. Der SS-Staat vermochte die zivilisatorische Formung des Menschen aufzuheben und seine egoistischen Instinkte zu befreien ohne ihn deswegen „frei“ zu machen. Die Selbstverantwortung, die ihm durch eine christliche oder humanistische Prägung, d.h. durch Religion oder Aufklärung, auferlegt worden war, ging im unbedingten Gehorsam auf: „Unsere Ehre heißt Treue“ war der Wahlspruch der SS.
Was von der NS-Prägung geblieben war, erfuhr Robert Kempner am eigenen Leib. Er war das rote Tuch für all diejenigen, die aus ganz unterschiedlichen Motiven heraus die „Siegerjustiz” geißelten, ehemalige Nazis, aber auch Oppositionelle wie der württembergische Landesbischof und EKD-Vorsitzende Theophil Wurm, dem die Nürnberger Justiz mit der Ausweitung auf „die Beamten” des Regierungsapparats zu weit ging. Dies fand damals ein Echo u.a. in der Zeit durch den Mitherausgeber und Chefredakteur Richard Tüngel, der, Wurm zitierend, die „verbrecherischen Methoden und abscheulichen Quälereien“ Kempners im Wilhelmstraßenprozess geißelte (41). Die damit angeblich erpressten Aussagen eines Beamten aus dem AA betrafen die oben genannte Interpretation des Wannseeprotokolls. Gegen den “unrühmlich bekannten Ankläger von Nürnberg” schrieb Richard Tüngel noch weitere Hetzartikel, am 20.9.1951 forderte er in „Abermals Robert Kempner“: „Einem Schädling muß das Handwerk gelegt werden“, und eine Woche später zitierte er sogar Kempners Erwiderung darauf und schloss seinen Artikel mit den Worten: “Wir fragen heute: Wie lange will eigentlich die Frankfurter Anwaltskammer ein solches Mitglied in ihren Reihen dulden?” Kempner hatte sich damals als Rechtsanwalt in Frankfurt niedergelassen, wo er v.a. Entschädigungsverfahren für überlebende Opfer des NS führte. An Tüngel hatte er geschrieben: „Mir ist es als ehemaligem Hauptankläger der Nazi-Diplomaten in Nürnberg stets eine Ehre, von der ‚Zeit‘ angegriffen zu werden. Solche Angriffe sind für meine Freunde und mich eine ehrenvolle Bestätigung, daß wir in Nürnberg unsere Pflicht gegenüber der Menschlichkeit getan haben, denn die ‚Zeit‘ hat sich ständig für Verbrecher eingesetzt, die in Nürnberg wegen ihrer Beteiligung an Massenmorden und ähnlichen Verbrechen verurteilt worden sind.“ (42).
Der NS-Jargon tritt in Tüngels Texten deutlich hervor. Robert Kempner verkörperte für seine Gegner fünf negative Eigenschaften, die sich in deren Sicht zur „Rachejustiz“ schlechthin kombinierten: Er war (1.) Jude, zudem (2.) Sozialdemokrat und (3.) aus beidem heraus Widerständler gegen das NS-Regime, dadurch (4.) in der Folge auch Exilant, und kam (5.) für die Siegermacht USA als Ankläger der Deutschen zurück.
Im März 1950 schrieb Kempner in der New York Herald Tribune eine bittere Klage über das rückblickende „Weißwaschen des Krieges und des Hitlerismus“ in der deutschen Publizistik, der Artikel wurde im Information Bulletin des Amerikanischen Hochkommissars für Deutschland übernommen und bekam dadurch noch einmal einen besonderen Stellenwert (43). „Heute wird West-Deutschland, unsere sorgsam gepflegte Reagenzglas-Demokratie, von nationalistischer und militaristischer Literatur überschwemmt, die Loblieder auf die guten alten Zeiten im Dritten Reich singt“, begann Kempner seinen Artikel. „Mit mehr oder weniger ausgesprochener Nostalgie erzählen viele politische Autoren in Deutschland ihrem Volk, dass es in Deutschland gut gelaufen wäre, wenn Der Führer nicht zu sehr ins Abseits geraten wäre, wenn er etwas mehr auf die Diplomaten, die Generäle, die Admiräle gehört hätte, und Deutschland wäre als Sieger aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen.“ Hitlers Dolmetscher Paul Otto Schmidt, in Nürnberg Freigesprochene wie der Reichsbankpräsident Schacht oder Hans Fritzsche, hoher Ressortleiter für den Rundfunk im Propagandaministerium und Goebbels‘ Stellvertreter, oder der General Franz Halder, im September 1942 von Hitler abgesetzt, aber kein politischer Widerständler, sie alle und andere noch schrieben ihre Erinnerungen als Zeitzeugen, die nach ihrem Verständnis in ihren Funktionen keinerlei Mitverantwortung für das Geschehene hatten, die Schuld auf einige Fanatiker um Hitler und natürlich zuvorderst auf ihn selbst fokussierten und sich selbst quasi als Widerständler in ihrem Innersten darstellten. Diese Literatur wog die ersten Würdigungen des echten Widerstandes und kritischen Rückblicke mehr als auf, meinte Kempner, und sieht man sich z.B. auch die Bibliographie zu Publikationen über die jüngste Geschichte an, die Otto-Ernst Schüddekopf im Internationalen Jahrbuch für Geschichtsunterricht 1951 zur Orientierung für ausländische Geschichtsschulbücher verfasst hat, so findet sich dies zum Thema Drittes Reich darin genau so wieder, wobei Schüddekopf selbst einer von ihnen war (44). Dass General Halder ab 1946 als Leiter der deutschen Abteilung der Historical Division von der US Army in Königstein eingestellt und damit auch entnazifiziert wurde, zeigt die andere Seite der Entnazifizierung. Schon in Nürnberg blieb es bei der Verurteilung von Keitel und Jodl, und wohl auch nur, weil ihnen Beteiligung bei Kriegsverbrechen im engeren Sinne nachgewiesen werden konnten, während der Generalstab als solches im Hinblick auf die „Planung und Durchführung eines Angriffskrieges“ ungeschoren blieb. Bereits im Oktober gab es Anweisungen aus Washington an Robert Jackson, den Generalstab herauszuhalten, vor allem wurde er nicht als verbrecherische Organisation klassifiziert, wie ursprünglich in der Diskussion, wogegen aber die Briten schon von Anfang an gewesen waren (45). Dabei hatte Hitler schon unmittelbar nach seiner Ernennung zum Reichskanzler am 3.2.1933 die damalige Reichswehrführung von seinen Plänen zur Liquidierung der Demokratie und „Eroberung von Lebensraum“ und „Germanisierung des Ostens“ instruiert und faktisch deren Zustimmung bekommen. General Halder tat alles für den Sieg in Hitlers Krieg und wurde von Hitler entlassen, weil er dessen strategische Fehlentscheidungen im Ostfeldzug kritisierte. Dafür konnte Halder dann später dafür wirken, die Wehrmacht pauschal von jeglicher Verantwortung freizusprechen, und hatte „entscheidenden Einfluss auf die deutsche Geschichtsschreibung zum Zweiten Weltkrieg.“ (Wikipedia).
Eugen Kogon wirkte maßgeblich dabei mit, eine kritische Untersuchung zur Epoche des Nationalsozialismus auch institutionell durch die Gründung eines entsprechenden historischen Instituts in München zu etablieren, an dessen Aufbau er als Mitglied des Beirats seit 1947 beteiligt war. Es entstand das Institut für Zeitgeschichte und Kogon selbst initiierte die Gründung von dessen Zeitschrift, der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Mit Ludwig Bergsträsser und Hermann Brill traf er im Beirat zudem politische Weggefährten beim demokratischen Aufbau des Landes Hessen, die dafür in der Besatzungszeit von den Amerikanern in wichtige Ämter berufen wurden, Brill war zudem ein Mithäftling in Buchenwald gewesen.
Walter Dirks und Eugen Kogon analysierten arbeitsteilig in mehreren Beiträgen der Frankfurter Hefte seit Anfang der Fünfzigerjahre den restaurativen Charakter der Politik. Kogons Beiträge wurden später von Michael Kogon und Gottfried Erb im 3. Band der Gesammelten Schriften (Die restaurative Republik, 1996) zusammengestellt. In „Beinahe mit dem Rücken zur Wand“ geißelte Kogon 1954 in der alten Verve der Nachkriegszeit in den Frankfurter Heften „die Gestrigen, zu denen einfallslose, rechthaberische Routiniers der Demokratie freilich ebenso gehören können wie im Verstand einigermaßen angepaßte, in ihren Gefühlen völlig unverändert gebliebene Nationalsozialisten, Nationalisten und die große Zahl derer, die hochmütig alte Vorrechte beanspruchen.“ (46) Dazu gehörten u.a. die Beamten, die nach ihrer Entlassung durch das Gesetz der Besatzungsbehörden zur Befreiung vom Nationalsozialismus 1946 durch ein Bundesgesetz 1951 ein pauschales Recht auf Wiedereinstellung bekamen, und natürlich die Militärs. Von Anfang an sprach sich Bundeskanzler Adenauer für ein „tabula rasa“(46) aus, bei der nur wenige Straftäter übrig blieben, und „hinsichtlich der ehemaligen Soldaten machte er dies besonders deutlich, indem er ausführte, ‚der Prozentsatz derjenigen, die wirklich schuldig‘ seien, sei ‚so außerordentlich gering und so außerordentlich klein‘, dass dies der Ehre der früheren Wehrmacht keinen Abbruch tue.“(47). So gab es zwar immer wieder Straffreiheitsgesetze, noch durch die Alliierten selbst übrigens, aber keinen Durchbruch für die von einer starken NS- und Schlussstrich-Lobby betriebene Generalamnestie (48).
Kogon blieb ein moralischer Mahner und wurde deswegen von den Wissenschaftlern, Politologen und Historikern, zunehmend geringgeschätzt, die einer Art wertfreier Konzeption von Wissenschaft anhingen. Er war Mitbegründer der „Gesellschaft für Wissenschaft von der Politik“, später „Gesellschaft für Politische Wissenschaft“, die, nach einem ersten Impuls durch eine Tagung 1949 in Waldleinigen im Odenwald, 1951 in Königstein gegründet wurde und in den ersten Jahren auf heftige Ablehnung aus dem universitären Establishment stieß, da diese „politische Wissenschaft” „in manchen akademischen Kreisen als eine weitere aufoktroyierte Erziehungsmaßnahme wahrgenommen wurde.” (49). In gewisser Weise analog wird von heutigen Politologen seine moralische Haltung als unwissenschaftlich kritisiert, weil ihm zufolge „die Logik politischen Handelns in kollektiver Moral fundiert sein muss.” (50). So schrieb Kogon noch 1977 in einem neuen Vorwort von Der SS-Staat über die Lehren aus der NS-Tyrannei: „Die Vergangenheit ist in der Bundesrepublik nicht moralisch, sondern politisch bewältigt worden – in einer Konstellation der Interessen und Kräfte, die dem auf das Nachhaltigste zuträglich war.” (SS-Staat 1977, S. 9).
Nur „politisch” meint hier gewissermaßen äußerlich, nicht innerlich. „Kein System der Freiheit kann allerdings bestehen ohne einen entwickelten, immer wachen Freiheitswillen seiner Bürger. Nie ist Demokratie ein Zustand, immer eine Forderung“ (Hervorheb. im Orig.), schrieb Eugen Kogon in dem 1948 neu eingefügten ersten Kapitel seines Buches (SS-Staat 1977, S. 41). In der Weimarer Republik gab es in der Satirezeitschrift Simplicissimus eine berühmte Karikatur von Th. Theodor Heine, die heute in jedem Schulbuch abgebildet ist, in der Angehöriger verschiedener sozialer Schichten und gewiss damit verbundener politischer Orientierung einen Buchstaben des Wortes Republik tragen. Die Karikatur trägt die Unterschrift: „Sie tragen die Buchstaben der Firma – aber wer trägt den Geist?“. Gemeinhin wird sie stets für die Interpretation der Krise am Ende der Weimarer Republik herangezogen, doch sie erschien am 21.3.1927, also in den „Goldenen Zwanzigern“, in der Stabilisierungsphase der Republik. So gibt es auch heute durchaus Anlass zur Frage, was im Zusammenwirken beider Faktoren das gefährlichere ist: die Illusion der Selbstverständlichkeit der demokratischen Errungenschaften oder deren offene Infragestellung.
„Wir kennen aus TV-Krimis die tote Hand, die aus der Müllhalde ragt“, kommentierte Eugen Kogons Sohn Michael dessen Vermächtnis, „von meinem Vater ragt – ach, gewiss, ein makabres Bild – noch der mahnende Zeigefinger aus dem Müll der Geschichte heraus.“(51).
(C) Wolfgang Geiger, Eugen-Kogon-Gesellschaft
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(1) Zum biographisch-publizistischen Weg Kogons inkl. der Vorgeschichte siehe Dennis Beismann: Eugen Kogon in der frühen Bundesrepublik. Ein öffentlicher Intellektueller zwischen Lehrstuhl und Fernsehstudio 1949-1969. Berlin / Boston (de Gruyter / Oldenbourg) 2020. Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte Bd. 121.
(2) Michael Kogon: Eugen Kogon – sein Leben, sein Werk. Die Geschichte einer Erinnerung, in: TU Darmstadt (Hrsg.): Das Maß aller Dinge. Zu Eugen Kogons Begriff der Humanität. TUD Schriftenreihe Wissenschaft und Technik 81, Darmstadt 2001, S. 11-24, hier S. 14.
(3) Björn Höfer: Eugen Kogon – linker Intellektueller mit rechter Vergangenheit, Demokratiegeschichten, 5.6.2021, https://www.demokratiegeschichten.de/eugen-kogon-linker-intellektueller-mit-rechter-vergangenheit/
(4) Eugen Kogon: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager. München (Heyne) 1974, mit neuem Vorwort 1977; Erstausg. 1946, erweitert 1948. – David A. Hackett: Der Buchenwald-Report. Bericht über das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar. München (Beck) 1996, 2002.
(5) Telford Taylor: The Anatomy of the Nuremberg Trials. A Personal Memoir. New York (Knopf) 1992, S. 520.
(6) Robert M. W. Kempner: Ankläger einer Epoche. Lebenserinnerungen. Frankfurt a.M. u.a.o. (Ullstein) 1983, S. 317.
(7) Siehe unten, Anm. 42.
(8) Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei als staats- und republikfeindliche, hochverräterische Verbindung. (Preußische Denkschrift 1930). Die Autoren der anonym erschienenen Schrift waren Bernhard Weiß (Polizeivizepräsident Berlin), Hans Schoch (Regierungsassessor), Johannes Stumm (Kriminalkommissar) unter Mitarbeit von Robert Kempner. Erstmals veröffentlicht in: Der verpaßte Nazi-Stopp. Die NSDAP als staats- und republikfeindliche, hochverräterische Verbindung. Preußische Denkschrift von 1930. Herausgegeben und mit einer Einleitung von Robert M. W. Kempner, Frankfurt a.M. u.a.o. (Ullstein) 1983, S. 21. Zur Entstehung und Bedeutung der Denkschrift siehe auch Kempner, Ankläger einer Epoche, op. cit., S. 65ff.
(9) Zusammengefasst in Barbara Wolbring: Nationales Stigma und persönliche Schuld. Die Debatte über Kollektivschuld in der Nachkriegszeit, in: Historische Zeitschrift, Jg. 289, Nr. 2/2009, S. 325-364, hier S. 325f.https://doi.org/10.1524/hzhz.2009.0043
(10) [Daniel Lerner:] Notizen von einer Reise durch das besetzte Deutschland (Anfang April 1945), in:
Ulrich Borsdorf / Lutz Niethammer: Zwischen Befreiung und Besatzung. Analysen des US-Geheimdienstes über Positionen und Strukturen deutscher Politik 1945.Wuppertal (Hammer) 1976, S. 40.
(11) Daniel Lerner: Psychological Warfare against Nazi Germany. The Sykewar Campaign, D-Day to VE-Day. Cambridge (Mass.) / London (England) (M.I.T. Press) 1949, S. 138.
(12) Kurt Schumacher: „Wir verzweifeln nicht!“ 6. Mai 1945, in: Ders., Reden, Schriften und Korrespondenzen 1945-1952. Berlin/Bonn 1985, S. 217, hier zit. nach Günther Rüther: Die Unmächtigen. Schriftsteller und Intellektuelle seit 1945. Göttingen (Wallstein) 2016, S. 21.
(13) Ausführlich hierzu Wolbring, op. cit.
(14) Essai d’explication de l‘âme allemande, in: Le Monde, 1.8.1946, https://www.lemonde.fr/archives/article/1946/08/01/essai-d-explication-de-lame-allemande_1877409_1819218.html?random=512779088 (für Abonnenten reserviert)
(15) Franklin D. Roosevelt. “Tehran Conference: Tripartite Dinner Meeting 2”. Memo, November 29, 1943. Teaching American History, https://teachingamericanhistory.org/document/tehran-conference-tripartite-dinner-meeting-2/
(16) Ian Cobain: Britain favoured execution over Nuremberg trials for Nazi leaders, in: The Guardian, 26.10.2012, https://www.theguardian.com/world/2012/oct/26/britain-execution-nuremberg-nazi-leaders
(17) Guy Liddell: Liddell Diaries June 18th to November 18th 1945, National Archives U.K., KV4/466, https://discovery.nationalarchives.gov.uk/results/r?_q=KV4%2F466&_sd=&_ed=&_hb=
(18) Kempner, Ankläger einer Epoche, S. 209; Bradey F. Smith: Reaching Judgment at Nuremberg. New York (Basic Books) 1977, S. 29ff.; vgl. auch Raymond M. Brown: The American Perspective of Nuremberg: A Case of Cascading Ironies, und David Cesarani: The International Military Tribunal at Nuremberg: British Perspectives, in: in: Hebert R. Reginbogin / Christoph J . M. Safferling / Walter R. Hippel (Hrsg.): The Nuremberg Trials International Criminal Law Since 1945. 60th Anniversary International Conference. München (Saur) 2006, 21-30, 31-38. https://doi.org/10.1515/9783110944846
(19) A.a.O., S. 211.
(20) Vgl. u.a. Kevin John Heller: The Nuremberg Military Tribunals and the Origins of International Criminal Law. Oxford (Univ. Press) 2001, S. 12.
(21) Andreas Hilger: Sowjetische Justiz und Kriegsverbrechen. Dokumente zu den Verurteilungen deutscher Kriegsgefangener, 1941-1949,, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Jg. 54, 3/2006, S. 471.
(22) Der SS-Staat, 1946, S. 328; vgl. auch: Gericht und Gewissen, in: Hubert Habicht (Hrsg.): Eugen Kogon – ein politischer Publizist in Hessen. Essays, Aufsätze und Reden zwischen 1946 und 1982. Frankfurt a.M. (Insel) 1982, S. 166.
(23) Gerhard Bommarius: 1949. Das lange deutsche Jahr. München (Droemer/Knaur) 2018, S. 147.
(24) Tobias Birzer: Entnazifizierung: Von der politischen Reinigung zur „Mitläuferfabrik“ / 3. Schneller Abschluss erwünscht, Focus online , 24.6.2014, https://www.focus.de/wissen/mensch/geschichte/von-der-politischen-reinigung-zur-mitlaeuferfabrik-entnazifizierung_id_2043927.html
(25) Theo Sommer: Henri Nannen – Doch kein Vorbild mehr? Die Zeit Nr. 28,/2022, 7.7.2022, https://www.zeit.de/2022/28/henri-nannen-stern-gruender-nationalsozialismus/
(26) Karl-Heinz Janßen: Zeuge und Mahner. Zum Tod von Eugen Kogon, Die Zeit Nr. 2/1988, 8.1.1988, https://www.zeit.de/1988/02/zeuge-und-mahner/
(27) Eugen Kogon: Das Recht auf politischen Irrtum, in: Frankfurter Hefte 7/1947, hier zit. aus: Habicht, Eugen Kogon…, op. cit., S. 200f.
(28) Hans Eduard Hengstenberg: Der Übel größtes ist die unbeweinte Schuld, in: Neues Abendland, Okt.1946, S.4.
(29) Dies alles auszuführen hatte ich 1995 Gelegenheit auf einer wissenschaftlichen Tagung an der Universität Tours in Frankreich über „Die intellektuelle Debatte über „Schreiben nach den Totalitarismen“, erschienen unter dem Titel „Le débat intellectuel sur la culpabilité et le renouveau culturel en Allemagne occidentale (1945-1949)“ in : Revue de Littérature comparée, n°2/1997 (avril-juin), « Ecrire après les totalitarismes 1945-1995 », S.139-150.
(30) [Lerner], op. cit. (siehe Anm. 10], S, 39.
(31) Cf. Marlis G. Steinert: Zwischen gestern und morgen. Volksmeinung und öffentliche Meinung in der französischen Besatzungszone, 1945-47, im Spiegel französischer Quellen, in: Klaus Manfrass/Jean-Pierre Rioux (éd.): France-Allemagne 1944-1947, Actes du colloque d’historiens allemands et français de Baden-Baden (2-5 décembre 1986), Cahier de l’IHTP (CNRS) N°13/14, décembre 1989 – janvier 1990, S. 54.
(32) [N.N.] Die öffentliche Meinung, in: Aussprache – Deutsch-französische Hefte n°2, 1948, S.18f.
(33) Anna J. Merritt / Richard L. Merritt: Public Opinion in Occupied Germany. The OMGUS Surveys, 1945-1949. Urbana / Chicago / London (Univ. of Illinois Press) 1970, S. 33.
(34) Cf. Dietrich Wetzel: Voraussetzungen und Schlussfolgerungen, Vorwort zu: Erziehungswesen und Judentum. Die Darstellung des Judentums in der Lehrerbildung und im Schulunterricht, hrsg. vom Verband Deutscher Studentenschaften (VDS), zusammengestellt von Ekkehart Krippendorff in Zusammenarbeit mit Dieter Bielenstein, München (Ner-Tamid), 1960, S. 10.
(35) Eugen Kogon: Das deutsche Volk und der Nationalsozialismus, in: Frankfurter Hefte Nr. 2, Mai 1945, zit. nach Eugen Kogon – ein politischer Publizist in Hessen, op. cit., S. 190-199, hier S. 197.
(36) [N.N.]: „Die Hypnose weicht…“, in: Der Ruf n°10, 2.Jg., 15.5.1947, S.1.
(37) Kogon, Das deutsche Volk…“, op. cit., S.195.
(38) Theodor W. Adorno: Studien zum Autoritären Charakter. Vorrede von Ludwig von Friedeburg. Frankfurt a. M. (Suhrkamp stw) 1973,1993. Orig.: The Autoritarian Personality, London/New York 1950.
(39) Beismann, op. cit. (Anm. 1), S. 34f.
(40) Erich Fromm: Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reichs. Eine sozialpsychologische Untersuchung, bearbeitet und herausgegeben von Wolfgang Bonß, Stuttgart (DVA), 1980.
(41) Richard Tüngel: Wurm gegen Kempner, in: Die Zeit Nr. 22/1948, 27.5.1948, Archiv https://www.zeit.de/1948/22/wurm-gegen-kempner
(42) Richard Tüngel: Abermals Robert Kempner. Einem Schädling muß das Handwerk gelegt werden, in: die Zeit Nr. 38, 20.9.1951, Archiv https://www.zeit.de/1951/38/abermals-robert-kempner; Richard Tüngel: Und abermals Robert Kempner! in: Die Zeit Nr. 39, 27.9.1951 (mit Zitat von Kempner), Archiv https://www.zeit.de/1951/39/und-abermals-robert-kempner
(43) Robert M. W. Kempner: Distorting German History. Current Publications in Former Reich Whitewash The War and Hitlerism, in: Information Bulletin – Monthly Magazine of the Office of US High Commissioner for Germany, March 1950, S. 22f., https://digital.library.wisc.edu/1711.dl/EVRRELOTKZKYG8W; reprinted from the New York Herald Tribune.
(44) Otto-Ernst Schüddekopf: Wichtige deutsche Neuerscheinungen nach 1945 zur neuesten deutschen Geschichte, in: Internationales Jahrbuch für Geschichtsunterricht Jg. 1, 1951, S. 120-126. Zu Schüddekopf siehe Wikipedia.
(45) Cf. Taylor, Anatomy…, (Anm. 5), S. 236ff.
(46) Eugen Kogon: Beinahe mit dem Rücken zur Wand, zuerst in: Frankfurter Hefte, Jg. 1954, aufgenommen in Michael Kogon / Gottfried Erb (Hrsg.): Eugen Kogon. Die restaurative Republik. Zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Gesammelte Schriften Bd. 9, Weinheim 1996, S. 116. Zit. nach Beismann, S. 60.
(47) Kabinettsprotokolle, Bundeskabinett [7.] Sitzung am Montag, den 26.9.1949, https://www.bundesarchiv.de/cocoon/barch/0000/k/k1949k/kap1_3/para2_4.html; zur ganzen Thematik ausführlich Norbert Frei: Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München (Beck) 1996.
(48) Cf. Andreas Eichmüller: Keine Generalamnestie. Die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen in der frühen Bundesrepublik. München (Oldenbourg) 2012, S. 36f.
(49) Beismann, op. cit., S. 95.
(50) Helmut König: Kontinuitäten und Diskontinuitäten des Denkens: Politikbegriffe in der deutschen Politikwissenschaft seit 1945, in: Susanne Ehrlich / Horst-Alfred Heinrich / Nina Leonhard / Harald Schmid (Hrsg.): Schwierige Erinnerung: Politikwissenschaft und Nationalsozialismus. Beiträge zur Kontroverse um Kontinuitäten nach 1945. Baden-Baden (Nomos) 2015, S. 37-58, hier S. 54.
(51) Michael Kogon, op. cit. (Anm. 2), S. 16.